Nachdem in den vergangenen zwei Jahren beim Gestalten der Osterkerze jede Mitwirkende für sich ein separates Element kreiert hat, das dann als Teil in den gesamten thematischen Kontext eingefügt worden ist, ist es uns für die Osterkerze im Jahr 2022 ein großes Anliegen gewesen, wieder gemeinsam an einem Bild zu arbeiten. Diesen Wunsch haben wir uns am Dienstag in der Karwoche erfüllt und zusammen an einem großen Motiv gebastelt.
Als Inspiration haben wir die ersten Verse der Bibel aufgegriffen: „Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüst und wirr und Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.“ Diese Worte hören wir auch in der ersten Lesung der Osternacht, wenn wir in der dunklen Kirche unseren Wortgottesdienst beginnen.
Auf unserer Kerze sieht man die Urtiefe, das wilde Urmeer als dunkelblaues, wogendes Wasser. In diesem Chaos kristallisiert sich mittig eine formgebende Struktur heraus, die mit dem hellen Weiß wie eine Reflexion wirkt: Der Geist schwebt über dem Wasser, lebendig und lebensschaffend. Die Welt ist also nicht geist- und gottverlassen.
Wo Gottes Geist über der Schöpfung schwebt, erfüllt sich die Leere mit Sinn und Sein.
Wo der Geist in der Welt weht, wächst das Leben. Wo der Geist bei uns Menschen wirkt, geschieht es fast unbemerkt, dass sich etwas bewegt, dass das Leben zum Guten verändert wird: Vergessene Gefühle werden geweckt, Sorgen verschwinden, Unklarheit und trübe Gedanken weichen Klarheit und Offenheit. Manchmal schwebt der Geist Gottes über uns, und das gute Leben wächst, allerdings so verborgen, dass wir es gar nicht merken.
Vielleicht braucht es dann nicht nur ein leises Schweben des Geistes über dem Wasser, sondern ein heftiges Stürmen, um uns das Wirken Gottes in der Welt begreifbar zu machen.
Und tatsächlich lässt der originale, alte Text auch eine solche Übersetzungsvariante zu:
„Der Geist Gottes fegte über den Wassern.“ Denn das hebräische Wort „ruach“ bedeutet neben „Lüftchen“ ebenso „starker Sturm“. In diesem Sinn handelt es sich dann um eine mächtige Naturgewalt, die das Wasser zu einem tobenden Meer aufpeitscht, einen wilden Sturm.
Kommt uns solch ein maßloser Sturm, der sogar Länder zerstören kann, nicht allzu bekannt
vor – heute und hier? Was verbinden wir damit: das Gefühl, gleichsam entwurzelt zu sein?
Wir irren umher, wir sind fassungslos und haltlos, wir verlieren den Boden unter den Füßen, wir können das Dasein nicht mehr überschauen, wir sehen die Sinnhaftigkeit des Seins nicht mehr. Menschen machen so viel Grausames durch, dass sie daran zerbrechen. Wir können nur hoffen, dass dieser so aufbrausende und zerstörerische Sturm bald abflaut. Dennoch die vorsichtige Frage: Gibt es in einem solchen Sturm die Möglichkeit zu leben …?
Wenn Stürme zügellos über uns hereinbrechen, wenn sie plötzlich unser Leben völlig umwerfen und wir keine Orientierung mehr haben, wie es weiter gehen soll, dann können wir in unserer Angst und Not immer noch Gott anrufen, dass er uns da durchhilft. Gott zeigt sich als feste, fortwährende Macht, die uns trägt und hält, ohne dass wir es immer wissen und spüren. Auf unserer Kerze wächst bildlich dafür aus dem Ursprung ein großes Kreuz. Farblich abgehoben in glänzendem Gold überstrahlt es alles. Es leuchtet im Schönen und Guten der Welt (die zarten Pastelltöne rechts oben), es ist aber auch im Schlechten und Bösen präsent, erhellt die dunkle Seite (Schwarz, durchbrochen von grellem Gelb).
Abschließend noch ein paar kurze Anmerkungen: Verstehen Sie diese Ausführung als Anregung zur Betrachtung der Osterkerze. Sie ist aus ganz persönlicher Perspektive geschrieben und daher nur EINE von vielen Auslegungsmöglichkeiten. Wir haben uns im Austausch selbst gegenseitig überrascht, welch unterschiedliche Eindrücke bei uns entstanden sind. Unter anderem hat die eine oder die andere folgendes in unserem Motiv entdeckt: einen unterirdischen Vulkan im Wasser, der ins Gelb hinein ausbricht; im gelben Flecken selbst einen Berg, Horeb oder Golgota; statt des Kreuzes einen Baum, der aus dem Ursprung entspringt; von oben nach unten über das Bild absteigend die Farben der deutschen und der ukrainischen Flagge. Sie sind herzlich eingeladen, die Osterkerze 2022 in aller Ruhe und mit Zeit zu betrachten und sich Ihr eigenes Bild zu machen. Was sehen Sie?
Stefanie Englert