Zu Beginn der Flüchtlingskrise 2015 gab es viel Sympathie für die Menschen, die in Massen zu uns kamen. Die Leute beklatschten die Ankömmlinge auf den Bahnhöfen, man hieß alle willkommen und sprach von der christlichen Nächstenliebe, die doch keine Grenzen kennt. Ich erinnere mich an eine Ordensschwester, die interviewt wurde. Genau davon sprach sie: Dass das Christentum eine universale Liebesreligion und keine Stammesreligion sei; sich auf alle Menschen beziehe und nicht nur auf die Angehörigen des eigenen Volkes. Eine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen, die schon damals diskutiert wurde, lehnte sie entschieden ab. Und alle die dies forderten fielen unter das Verdikt „unchristlich“. Als der Journalist, der ihr sehr wohlgesonnen war, sie allerdings zum Schluß fragte, wie viele Flüchtlinge sie in ihrem Kloster aufnehme, geriet sie ins Stottern und sagte, ihre räumlichen Möglichkeiten seien leider begrenzt…….
Und genau darum geht es, liebe Schwestern und Brüder. Einer der wenigen, der dies damals vor 10 Jahren offen und ehrlich ansprach, war der ehemalige evangelische Pfarrer und dann Bundespräsident Joachim Gauck, der sagte: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich“.
Nach 10 Jahren hat sich vieles geändert. Der Wind hat sich gedreht. So sehr, dass auch viel Fremdenfeindliches und Rassistisches aufkommt. Auf jeden Fall aber: Überall in Europa gewinnen migrationskritische Regelungen die Überhand. Darüber diskutiert zur Zeit auch Deutschland. Friedrich Merz brachte dies in den Bundestag. Führende Berufskatholiken und nicht wenige Christen reden seitdem davon, dass die CDU und insbesondere Friedrich Merz das „C“ im Parteinahmen verraten würden. Ihr verschärfter Kurs in Sachen Migration sei unchristlich.
Mir geht es jetzt gar nicht um Parteipolitik. Deshalb will ich den Fokus auf die Kirche lenken. Grundsätzlich kann man ja fragen, ob es wirklich eine genuin kirchliche Aufgabe ist, so in die Tagespolitik einzugreifen. Zumal auch unserer Kirche wohlgesonnene Kommentatoren in einer anderen Blickrichtung fragen: Trägt diese apodiktische Sichtweise nicht vielmehr dazu da, rechte Parteien zu stärken. Denn einfach zu sagen: Die Grenzen müssen offen bleiben, die Liebe ist grenzenlos – verkennt die Masse an Problemen, die mit der Migration verbunden sind. Und die dutzendfachen Morde sind ja nur die Spitze des Eisberges. Alltagsprobleme sind die Überforderung der Kommunen, die Schwierigkeiten Integration in unseren Bildungseinrichtungen zu bewältigen, der mangelnde Wohnraum gerade in den Ballungsräumen und auch die legitime Frage, ob am Ende noch etwas von unserer kulturellen Identität übrig bleibt. Das treibt Menschen um. Sollte es wirklich christlich sein, sich diesen Fragen und Realitäten bloß zu verweigern? Vielleicht auch noch mit dem Argument, man dürfe unter keinen Umständen Forderungen der AFD auf den Leim gehen? Das kann es doch nicht ernstlich sein!
Man darf – auch christlich gesehen – nicht vergessen, dass es einen gewaltigen Unterschied zwischen der persönlichen Gesinnung und der Verantwortung für das Gemeinwesen gibt. Diese Verantwortung für das Ganze weiß darum, dass es Recht und Ordnung geben muss. Ohne das entsteht Chaos und auf diesem Boden gedeihen weder Liebe noch Gerechtigkeit. Recht und Ordnung sind also nicht der Gegensatz zur Liebe, sondern die Voraussetzung dafür, dass sie fruchtbar werden kann!
Thomas von Aquin, einer der großen Lehrer der Kirche schreibt: „Wir sollen zwar alle lieben, aber wir können nicht allen Gutes tun.“
Auf unsere Diskussion angewandt heißt das: Ein politisches Gemeinwesen muss sorgsam abwägen, wie viele Flüchtlinge und Zuwanderer es aufnehmen kann und möchte. Bei dieser Einschätzung können Christen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen – da gibt es kein einfaches schwarz oder weiß, christlich oder unchristlich. Ein politisch engagierter Christ kann die Meinung vertreten, dass wir noch mehr Menschen aufnehmen sollten. Aber er kann mit der gleichen Berechtigung zu dem Ergebnis kommen, dass das Gegenteil die bessere Option ist und die Aufnahme drastisch zu reduzieren sei.
Darum geht es unter anderem bei der anstehenden Bundestagswahl. Dazu kann und muss man argumentieren. Darüber kann und muss man streiten. Was es aber ganz gewiss nicht braucht sind einseitige kirchliche Positionierungen wie die, die in der letzten Woche laut geworden sind.
(Diese Predigt ist inspiriert von Ludger Schwienhorst – Schönberger: Die Migrationspolitik und die Ordnung der Liebe – Eine theologische Korrektur)
Pfr. Martin Weber