Entdeckungen
Vor einigen Tagen fiel mir ein Text aus dem alttestamentlichen Buch der Weisheit regelrecht in die Hände. Wie eine Entdeckung. Dazu muss man wissen, dass es im Alten Testament viele Texte gibt, die sehr stark den Bundesschluss Gottes mit seinem auserwählten Volk betonen. Es gibt aber auch Bücher und Texte, die den Dialog und Austausch mit anderen Völkern oder Philosophien suchen. Dazu gehört ganz gewiss das Weisheitsbuch. Die besagte Stelle, die mich fasziniert hat und die ich bewusst noch nie gelesen hatte, denkt darüber nach, was es heißt, Mensch zu sein. Eine Frage, die auch nach Jahrtausenden noch frisch und aktuell ist.
Da heißt es: „Ich bin ein sterblicher Mensch, wie alle anderen aus Erde gebildete Menschen. Geboren atme auch ich die gemeinsame Luft. In Windeln und Sorgen wurde ich aufgezogen, kein König trat anders ins Dasein. Alle haben den gleichen Eingang zum Leben, alle den gleichen Ausgang“. (Weisheit, 7,1-6) In ganz schlichten Worten wird Fundamentales über den Menschen gesagt. Wir Menschen sind sterblich und gleich („alle haben den gleichen Eingang…“), wir sind miteinander verbunden („die gleiche Luft“) und aufeinander angewiesen.
Es wäre interessant, dieses Menschenbild in den Dialog zu bringen mit anderen Vorstellungen. Etwa dem Transhumanismus, der den Menschen mit technischen Assets optimieren und die Sterblichkeit überlisten möchte. Etwa indem er „den Geist“ des Menschen digital speichert und so eine Art „Weiterleben“ generiert. Als wären wir keine „Leibwesen“.
Oder ein Konzept, das – im Rückgriff auf Immanuel Kant - die Autonomie des Menschen priorisiert, ja absolut setzt: vor aller Bezogenheit auf Andere und Anderes. Als wären wir keine Beziehungswesen.
Aus all dem folgt für den Schreiber des Weisheitsbuches: „Daher flehte ich und der Geist der Weisheit kam zu mir“. Die höchste Gabe des vergänglichen Menschen ist es nicht reich, schön, besonders ausgezeichnet oder schlau zu sein. Die höchste Gabe ist Weisheit. Sie befähigt den Menschen demütig zu sein, Dinge einordnen zu können; die Gabe der Unterscheidung zu haben, was wichtig und wesentlich ist.
So war König Salomon weise, weil er Gott nicht um Macht und Sieg, sondern um ein „hörendes Herz“ bat. Weise war auch der Psalmist, der angesichts der Vergänglichkeit von allem betet: „Unsere Tage zu zählen lehre uns, damit wir klug werden“
Gerade das letzte Wort schlägt die Brücke zu den Tagen, die wir begehen, Allerheiligen und Allerseelen. Das Leben ist kostbar, weil es begrenzt ist. Es will weise und gut gelebt sein. Aber umfangen ist es vom großen Gott. Die Bibel und das Buch der Weisheit sagen, dass er ein „Freund des Lebens“ ist. Er will nicht unser Ende, er schenkt vielmehr Vollendung. Das ist die schönste Entdeckung, die man beim Lesen der Bibel hat.
Martin Weber, Pfr.