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IMPULS:Das Leben ist zu kurz

In vielen Familien ist die Zeit nach den Ferien mit Veränderungen und neune Wegen zutun. Davon erzählt die Geschichte die ich für Euch fand. Gisela Baldes, erzähle Ihre Geschichte gern in der Ich-Form. Ihre Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.
Datum:
3. Sept. 2025

© Gisela Baltes

Am Ende des vierten Grundschuljahres brach bei uns Mädchen das Poesiealbumfieber aus. Bevor wir auf die verschiedenen weiter führenden Schulen wechselten, ließen wir diese Büchlein herumgehen als Erinnerung an unsere Grundschulzeit. Auch die Lehrer schrieben dort ihr Sprüchlein hinein, meist kluge Zitate, die sie uns auf unseren Lebensweg mitgeben wollten. So schrieb mir meine sehr geliebte Klassenlehrerin hinein: „Das Leben ist zu kurz, als dass wir es falsch leben dürften.“ Allerdings habe ich das damals noch nicht so recht verstanden.

 

Nach meinem Wechsel zum Gymnasium besuchte ich diese Grundschullehrerin noch oft in der alten Schule. Dann schlief der Kontakt zu ihr allmählich ein. Und das Poesiealbum verschwand schließlich in den Tiefen irgendeines Schrankes.

 

Viele Jahre danach ging ich zum Studium in eine andere Stadt, fuhr an den Wochenenden aber oft nach Hause. An ein Pfingstwochenende erinnere ich mich noch heute. Ich war damals nicht sonderlich fromm. Aber weil ich wusste, dass meine Mutter Wert darauf legte, ging ich mit den Eltern in den Pfingstgottesdienst. Und da stieß ich erneut auf den längst in Vergessenheit geratenen Satz aus meinem Poesiealbum. Der Pfarrer begann nämlich seine Predigt: „Das Leben ist zu kurz, als dass wir es falsch leben dürften. – Dies war der Wahlspruch von Frau Bender, die viele von Ihnen als Lehrerin gekannt und geschätzt haben und die wir in der letzten Woche begraben haben. …“

 

Was er weiter sagte, hörte ich nicht mehr, so sehr traf mich die Nachricht vom Tod meiner Grundschullehrerin. Für die nächsten Minuten überließ ich mich ganz den Erinnerungen, die mit ihrem Namen verknüpft waren. Als ich schließlich wieder in die Gegenwart zurück fand, schloss der Pfarrer gerade seine Predigt: „Immer wieder stehen wir vor Entscheidungen, die unserem Leben womöglich eine ganz neue Wendung geben. Wenn wir in solchen Zeiten Gottes guten Geist um seinen Beistand bitten, wird er uns diesen gewiss gewähren.“

Für einen Moment kam es mir so vor, als wäre es meine verstorbene Lehrerin, die mir hiermit einen Rat geben wollte. Denn ich stand gerade vor einer schweren Entscheidung. Seit Wochen rang ich mit mir, ob ich mein Studium wechseln sollte. Es war immer selbstverständlich gewesen, dass ich Jura studieren würde, ein Traum, den mein Vater sich selbst nie hatte erfüllen können. Ich war schon im 5. Semester und fand alles, was ich lernte, durchaus interessant. Aber die Vorstellung, mich ein Leben lang damit zu beschäftigen, verursachte mir Unbehagen. So betete ich die Anrufungen zum Heiligen Geist, die auf die Predigt folgten, ungewohnt inständig mit.

Der Heilige Geist versagte mir seinen Beistand nicht. Denn nie sah ich klarer als in diesem Augenblick, dass meine Zukunft nicht darin liegen konnte, die unerfüllten Träume meines Vaters zu verwirklichen. Endlich verstand ich, was mir meine Lehrerin damals ins Poesiealbum geschrieben hatte. Hier ging es um mein  Leben, und das wollte ich nicht falsch leben. Es war gar nicht so schwer, meinen Eltern das klarzumachen.

Seitdem hab ich es mir zur Gewohnheit gemacht, den Wahlspruch meiner Lehrerin auf die erste Seite jedes neuen Terminkalenders zu schreiben. Er ist auch mir zum Leitsatz geworden und erinnert mich außerdem daran, bei schwierigen Entscheidungen Gottes guten Geist darum zu bitten, mir zu helfen, das Richtige zu tun.