Am Montag, den 23.06.2025 wurden in Darmstadt 18 Stolpersteine verlegt, die an deportierte und ermordete Personen in der Zeit des NS-Regimes erinnern und dieses Schicksal und ihren Namen sichtbar machen sollen. Als KHG durften wir das Patenamt für einen Stein übernehmen.
Für uns als junge Gemeinde ist es Ehre und Auftrag zugleich: gerne tragen wir durch unsere Patenschaft dazu bei, die Erinnerung wachzuhalten, das Gedenken zu bewahren, Bewusstsein zu schaffen und für Menschenwürde, Freiheit und Demokratie einzutreten.
Hans Hirsch wohnte in der Kasinostraße 14 in Darmstadt und wurde im Zuge der ersten großen Deportation aus Darmstadt im März 1942 nach Piaski verbracht. Weniger Zeit später fanden er und seine ganze Familie dort durch zermürbende harte Arbeit und Bedingungen den Tod.
Stolpersteinverlegung am 23.Juni 2025 Kasinostraße 14
Leo Hirsch * 06.03.1884 Darmstadt dep. 27.09.1942 Treblinka
Berta Hirsch geb. Mannheimer * 25.12.1894 Aub b.Würzburg dep. 27.09.1942 Treblinka
Hanna Hirsch * 04.04.1922 Darmstadt dep. 27.09.1942 Treblinka
Herbert Hirsch * 20.04.1925 Darmstadt dep. 27.09.1942 Treblinka
Bella Hirsch geb. Rosenbaum * 07.09.1894 Frankfurt/M. dep. 24.03.1942 Piaski
Hans Hirsch * 04.09.1923 Darmstadt + 02.07.1942 Majdanek
Ernst Hirsch * 03.10.1926 Darmstadt + 17.07.1942 Majdanek
Liesel Hirsch * 19.09.1929 Darmstadt dep. 24.03.1942 Piaski
Hier in der Kasinostraße 14 stand das 3-geschossige Haus, das den Brüdern Leo und Moritz Hirsch in Erbengemeinschaft gehörte und das sie mit ihren Familien bewohnten. Im Erdgeschoss befand sich die von ihrem Vater Zacharias Hirsch gegründete Lebensmittelgroßhandlung, die die beiden Kaufleute gemeinsam fortführten.
Leo Hirsch, der Ältere, Jahrgang 1884, heiratete (am 7. Juni) 1921 die 9 Jahre jüngere Berta Mannheimer (* 25.12.1894). Sie war die mittlere von drei Schwestern aus Aub, ca. 20 km südlich von Würzburg, und stammte aus einer wohlhabenden und seit Generationen dort ansässigen Viehhändlerfamilie. Ihr Vater war daneben auch als Händler für Immobilien und Grundstücke tätig.
Die Hochzeit fand in dem damals sehr bekannten und bei jüdischen Trauungen beliebten koscheren Restaurant Kulp in Aschaffenburg statt. (In der Pogromnacht wurde es brutal verwüstet.) Das junge Paar bezog die Wohnung im 1. Stock des elterlichen Hauses in der Kasinostraße. 1922 wurde die Tochter Hanna geboren, drei Jahre später der Sohn Herbert.
Leo Hirsch gehörte, wie auch sein Vater, aktiv der orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft an. Seit der Spaltung in den 1860er Jahren gab es in Darmstadt zwei jüdische Gemeinschaften: die liberale Religionsgemeinde und die orthodoxe Religionsgesellschaft, die mit ihrem je eigenen Kultus und Einrichtungen getrennt nebeneinander bestanden und wirkten.
Unter dem massiven Druck der Verfolgung im Nationalsozialismus und verstärkt nach dem Novemberpogrom 1938 arbeiteten die beiden Richtungen mehr und mehr zusammen. Im Februar 1940 wurde ein gemeinsamer Vorstand gebildet. Leo Hirsch gehörte zu den drei Vertretern der orthodoxen Gruppe.
Außerdem war er in Darmstadt ein führendes Mitglied des Agudat Israel, der politischen Bewegung des orthodoxen Judentums. (Sein Bruder Moritz gehörte dagegen der liberalen Religionsgemeinde an, denn sein Grab (A 50) befindet sich auf dem Hauptteil des jüdischen Friedhofs. Möglicherweise war die Herkunft seiner Frau aus einer liberalen Frankfurter Familie die Ursache, dass er sich dieser Richtung angeschlossen hatte.)
Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Moritz (* 13.09.1886) heiratete (am 11.10.) 1922 Bella Rosenbaum, die Tochter des Frankfurter Kaufmanns Rafael Rosenbaum und seiner Frau Hannchen (geb. Kellermann). Von ihren fünf Geschwistern (Alice, Manfred, Selma, Irma und Max) konnte nachweislich zumindest die Schwester Alice später rechtzeitig aus Deutschland in die USA entkommen.
Moritz und Bella Hirsch waren bei ihrer Hochzeit 36 und 28 Jahre alt, auch sie zogen in die Kasinostraße 14, und hier wurden ihre drei Kinder geboren: Hans 1923, sein drei Jahre jüngerer Bruder Ernst und 1929 als Jüngste die Tochter Liesel. In fast gleichem Alter wie die Kinder von Leo und Bertha wuchsen hier also miteinander die fünf Cousins und Cousinen der beiden Familien auf.
Ein schwerer Schicksalsschlag war der frühe Tod von Moritz Hirsch 1936 im Alter von nur 50 Jahren. Bella war jetzt mit 42 Jahren Witwe, ihre Kinder zwölf, neun und acht Jahre alt. Man möchte annehmen, dass sie in der nahen Verbindung mit der Familie ihres Schwagers Leo und der Schwägerin Berta Beistand und Unterstützung fanden. Es gibt keine Informationen darüber, wie die Familien Hirsch die Zeit des Nationalsozialismus erlebten – und erlitten. So ist nicht bekannt, wie lange die Väter den Lebensmittelhandel, d. h. die wirtschaftliche Basis der Familien, führen konnten. Spätestens 1938, mit den Gesetzen zum Ausschluss der Juden aus dem Wirtschaftsleben, musste Leo Hirsch das Unternehmen liquidieren, wenn sie es nicht schon vorher unter dem Druck der antijüdischen Beschränkungen und Boykotte hatten aufgeben müssen.
Bei der Machtergreifung 1933 waren die Kinder zwischen vier und elf Jahre alt. Auch sie werden die rasch um sich greifenden Anfeindungen, Ausgrenzungen und die immer zahlreicheren Einschränkungen erfahren haben. Zuerst durften sie nicht mehr Mitglied in einem Verein, z. B. Sportverein sein, später kein Kino oder Schwimmbad mehr besuchen, kein Haustier halten oder Fahrrad besitzen …. Spätestens 1936 wurden sie aus ihren Schulen ausgeschossen und mussten eine der beiden neu eingerichteten jüdischen Schulen besuchen. Hier fanden sie wenigstens einen geschützten Raum und Zusammengehörigkeit. Im November 1938 – jetzt sind sie zwischen 9 und 16 Jahre alt – haben sie sicher die Zerstörung der beiden Synagogen in der nahen Nachbarschaft mitbekommen. Schrecken und Angst – wir können es uns wohl kaum recht vorstellen …
Von Hans, dem ältesten Sohn der verwitweten Bella Hirsch, wissen wir, dass er Schlosser wurde. Und: Dass er im Sommer 1940 für zwei Monate Zwangsarbeit im Arbeitslager Tonwerk in Heppenheim leisten musste.
März 1942: Hans war jetzt 18 Jahre alt, sein Bruder Ernst 15, die Schwester Liesel 12 und ihre Mutter Bella 47 Jahre. Sie gehörten zu den 1.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern, die am 24 März mit dem 1. Transport aus Darmstadt in das Ghetto Piaski bei Lublin deportiert wurden. Die mehrheitlich jüdische Bevölkerung des polnischen Städtchens war vorher ermordet worden. Die ankommenden Juden aus Deutschland und Österreich wurden in die verlassenen Häuser eingewiesen. Piaski war kein Vernichtungslager, aber es herrschte dort größte Enge, die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln war völlig unzureichend, die sanitären Verhältnisse katastrophal – die meisten Menschen starben innerhalb weniger Wochen oder Monate an Entkräftung, Auszehrung, Verzweiflung …
Eine begrenzte Zahl von arbeitsfähigen, meist jüngeren Männern wurde in ein Arbeitslager „überstellt“, so auch Hans und Ernst Hirsch. Sie mussten ihre Mutter und die kleine Schwester allein zurücklassen, sie sich selbst überlassen – und sahen sie nie wieder.
Die Brüder kamen nach Majdanek, wo ab Frühjahr 1942 jüdische Häftlinge schwerste Zwangsarbeit bei brutaler Behandlung verrichten mussten. Die Sterblichkeitsrate war außergewöhnlich hoch: „Vernichtung durch Arbeit.“
Hans ertrug die mörderischen Bedingungen bis zum 2. Juli, Ernst erlag ihnen am 17. Juli 1942.
Die Familie von Leo Hirsch war noch verschont geblieben, aber nur für kurze Zeit. Ein halbes Jahr später, am 30. September 1942 wurden sie nach Treblinka im besetzten Polen verschleppt. Treblinka bestand aus dem Arbeitslager, Treblinka I, und dem daneben errichteten Vernichtungslager, Treblinka II. Leo Hirsch, 58 Jahre, die Tochter Hanna, 20 Jahre, und der Sohn Herbert, 17 Jahre alt, kamen in das Arbeitslager. Für alle drei ist der 28. Oktober 1942 als Todesdatum angegeben. Die Mutter Berta war 47 Jahre alt, als sie bei der Ankunft selektiert und direkt in der Gaskammer des Vernichtunglagers ermordet wurde. Das Leben aller acht Personen der Familien Hirsch wurde brutal ausgelöscht, sie haben kaum Spuren in Darmstadt hinterlassen. Mit den Stolpersteinen wollen wir sie in die Erinnerung zurückholen.
© Uschi Jackel und Michaela Rützel, 22.06.2025