Orgelgeschichte der Gnadenkapelle
Während es 1589 bereits erste Hinweise für die Existenz einer eigenen Orgel in der Stadtkirche gibt, liegen für die Gnadenkapelle aus dieser frühen Zeit keine entsprechenden Nachrichten vor. Noch 1706 bestätigte der dortige "Kirchenbaumeister" (Kirchenrechner) Auszahlungen in Höhe von 5 fl 30 xer an "die hiesigen Musicanten, Singbuben sowie die beiden Zinken- und Posaunenbläser für die musikalische Gestaltung der Gottesdienste". Das spricht dafür, dass die erwähnten Sänger und Musikanten damals noch die fehlende Orgel ersetzen mussten.
Eine gebrauchte Orgel aus Darmstadt für die Wallfahrtskirche
Wie der [...] Rechnungseintrag belegt, bekam die Gnadenkapelle 1733 ihre erste Orgel; der Hessen-Darmstädtische Postmeister Friedrich Brandt, der 1728 verstorben war, hatte sie gestiftet. Erst fünf Jahre später erhielt dann der Dieburger Schreinermeister Peter Achtekirch den Auftrag, das Instrument in Darmstadt abzuholen und in der Wallfahrtskirche zu Dieburg aufzustellen.
Da zur fraglichen Zeit in keiner der Darmstädter Kirchen eine Orgel abgegeben wurde, ist es durchaus denkbar, dass es sich bei der Stiftung um die Hausorgel des Postmeisters gehandelt hat. Es war kein mächtiges Orgelwerk; 20 Jahre später wurde das Instrument als "kleine Orgel" nach Groß-Umstadt weiterverkauft .
[...]
Wie der [...] Rechnungsausschnitt belegt, erhielt der Dieburger Zimmermann Joseph Kolb sowie der Schreiner Peter Achtekirch den Auftrag, für die Orgel ein "Toxal" (Empore) zu errichten. Sie wurde im gotischen Ostchor, wo heute der "Krippchesaltar" (Ulner) steht, errichtet. Beide Handwerker erhielten für ihre Arbeit 120 Gulden.
Neue Orgel vom Dieburger Meister Peter Achtekirch
Es zeigt sich schon bald, dass die Darmstädter Orgel für die Wallfahrtskirche viel zu klein war; man plante deshalb, ein größeres Instrument anzuschaffen, was wegen der fehlenden Finanzen jedoch zunächst nicht verwirklicht werden konnte.
1759 war es dann aber doch soweit; der Dieburger Schreinermeister Peter Achtekirch erhielt den Auftrag, die größere Orgel zu errichten. Wie in dem "Accord" vom 26. August festgelegt war, "sollte das Werk im Manual 13 und im Pedal 5 Register umfassen".
In einem ersten Kostenvoranschlag stellte Achtekirch 1.300 Gulden in Rechnung, vermerkte jedoch "er wolle wohl wissend, dass die Kirche arm ist, keinen Profit oder Gewinn suchen, sondern die Orgel zu dem oben erwähnten Preis überlassen - zur größeren Ehre Gottes und Zierde der Kirche".
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Orgelpfeifen werden "als Kriegsbedarf" beschlagnahmt
Laut einer Reichsverordnung "zur Sicherstellung von Kriegsbedarf" wurden nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges in allen Kirchen Orgelpfeifen aus Zinn beschlagnahmt. So sollten im Juli 1917 aufgrund einer Anforderung des Großherzoglichen Kreisamtes die 48 Pfeifen des Principalregisters aus dem Schmuckprospekt der Orgel in der Gnadenkapelle ausgebaut und abgeliefert werden. Pfarrer Ebersmann, besonders aber auch der damalige Kaplan Geoerg, verwiesen auf die Bedeutung der Orgel bei der Gestaltung der Gottesdienste in der Wallfahrtskirche und baten von der Beschlagnahme der Pfeifen abzusehen. Beide erreichten schließlich durch mehrfache Anträge, dass die großen Prospektpfeifen nicht ausgebaut werden mussten. Dafür wurden jedoch "dem Gewicht entsprechend" andere Zinnpfeifen (das gesamte Gamba) beschlagnahmt.
Restaurierte Kirche soll größere Orgel bekommen
In den Jahren von 1923 bis 1932 wurde eine umfassende Renovierung der Gnadenkapelle vorgenommen. In einem Bericht über die bauliche Sicherung und die stilvolle Restaurierung der Kirche ging man auch auf den Zustand der Orgel ein und stellte fest:
"Vor dem Beginn der Wiederherstellungsarbeiten musste die Orgelfrage gelöst werden. Das Orgelwerk war veraltet und viele Teile der Verkleidung waren vom Holzwurm zerfressen. Um den schönen Ostchor wieder zur Geltung zu bringen, sollte die Orgel auf Vorschlag von Herrn Regierungsbaurat Münkler an die Stirnwand des nördlichen Querschiffes versetzt werden."
Orgelbaumeister Körfer aus Gau-Algesheim stellte 1932 bei einer Besichtigung der alten Orgel fest, dass einige Register und Bauteile noch brauchbar waren und schlug deshalb vor, beim Bau einer neuen Orgel die noch brauchbaren Pfeifen und Holzteile erneut zu verwenden. Er erhielt daraufhin von Pfarrer Haus den Auftrag, die alte Orgel auszubauen, eine neue zu liefern und diese auf 26 Register zu erweitern. So kam es dann auch.
Domkapellmeister Vogt prüfte das neue Werk und schrieb in seinem Gutachten: "Es ist dankbar anzuerkennen, dass man das, was von der alten Orgel brauchbar war, erhalten und benützt hat. Dadurch, dass Herr Körfer die noch brauchbaren Register gereinigt, durch passende Pfeifen ergänzt und neu intoniert hat, ist der Kirche viel Geld erspart worden."
Die Kosten für die Anschaffung der neuen Orgel betrugen trotzdem 13.680 Mark. Dies war für die Pfarrei eine schwere zusätzliche Belastung, sie hatte für die in den Jahren von 1923 bis 1932 durchgeführten Restaurierungsarbeiten an der ruinösen Wallfahrtskirche bereits 120.000 Mark zu zahlen. Die erforderlichen Geldbeträge wurden durch die Mitglieder des Kapellenbauvereins, durch regelmäßige Kollekten und vor allem durch Stiftungen und Spenden aufgebracht. Als besonders großzügiger Wohltäter erwies sich dabei Lorenz Dörr, ein Dieburger, der 1882 nach Amerika ausgewandert war und sich dort als Konditor niedergelassen hatte. Aus kleinen Anfängen in St. Louis wuchs sein Geschäft zu einem bedeutenden Betrieb. Er blieb mit seiner Heimatstadt Dieburg, besonders aber mit Dekan Ebersmann und der Wallfahrtskirche eng verbunden. 1928 spendete er 6.800 Mark für die neuen Glocken, 1929 ermöglichte er mit einer Stiftung von 9.000 Mark die Errichtung des Außenaltares und 1931 war die Anschaffung der neuen Orgel nur durch eine Spende von über 7.000 Mark aus Amerika möglich. Im September 1931 ertönte das neue Orgelwerk erstmals im Gottesdienst. Der Mainzer Domkapellmeister bemerkte in dem von ihm erstellten Gutachten:
Um es kurz zu sagen, die Gemeinde Dieburg hat in ihrer Wallfahrtskirche ein sehr schönes, interessantes und zweckdienliches Orgelwerk, wozu man sie und den Erbauer, Herrn Orgelbaumeister Körfer aus Gau-Algesheim, aufrichtigst beglückwünschen kann".
Neue Probleme mit der Orgel
[...] Als 1968 wegen dringend notwendiger Reparaturen am Gewölbe des nördlichen Seitenschiffes die Orgel ganz abgebaut werden musste, empfahl Orgelbauer Stumpf aus Neustadt, diese nicht wieder im alten Zustand aufzubauen, sondern ein neues Werk anzuschaffen, das "modernen musikalischen Bedürfnissen entspricht".
Trotz Bedenken aus Mainz beauftragte der Kirchenstiftungsrat Stumpf mit dem Neuausbau der Orgel. Pfarrer Neumann schrieb in seiner Stellungnahme: "Ich habe mich von den Fähigkeiten Stumpfs als Orgelbauer überzeugen lassen. Ich bin nicht nur von Amts wegen, sondern ganz persönlich als Liebhaber der Orgelmusik daran interessiert, dass die Orgel in der Wallfahrtskirche so gut wie nur möglich erneuert wird".
[...]
Im abschließenden Prüfungsbericht des Domkapellmeisters hieß es: "Das Werk besitzt 27 klingende Register in zwei Manualen und Pedal. Die Orgelrenovierung kommt fast einem Neubau gleich. Die Pfarrgemeinde und ihr H. H. Pfarrer sind über dieses wertvolle Instrument zu beglückwünschen. Dieses Instrument entspricht den liturgischen Ansprüchen voll und ganz. Dem Herrn Orgelbauer Stumpf gebührt ein Wort des Lobes für die gelungene Arbeit. Diese Orgel ist ein Schmuckstück der Wallfahrtskirche und ein Zeichen einer opferwilligen Gemeinde."
Neuere Orgelgeschichte der Gnadenkapelle
Am Palmsonntag 2010 erschraken sicher nicht wenige Gottesdienstbesucher, als statt dem gewohnten Orgelklang auf einmal ein elektronisches Klavier zum Einzug des Gottesdienstes erklang. Für die Organisten war dieser Wechsel weit weniger überraschend. Bereits in den Monaten davor zeigte die Orgel der Gnadenkapelle einige "Schwächezeichen", die Maßnahmen unausweichlich machten:
In den Jahren 2004/2005 fand im Anschluss an die Orgelerweiterung in der Pfarrkirche St. Peter und Paul eine Ausreinigung, Neuintonation und Reparatur der Orgel in der Gnadenkapelle statt. Die alte Orgel war mit einer elektropneumatischen Kegellade ausgestattet, ein System, das nach 40 Jahren immer Verschleißerscheinungen mit sich bringt, die bei dieser Reparatur behoben wurden. [...]
Die Orgel war also ein uneinheitliches Sammelsurium unterschiedlichster Pfeifen, Techniken und Stile geworden und man hatte bei all diesen Maßnahmen eines nur unzureichend bedacht: Auch der Motor und die Bälge der Orgel, sozusagen das Herz und die Lunge, waren inzwischen in die Jahre gekommen. So zeigte sich vor allem in den Monaten vor dem endgültigen Verstummen des Instrumentes eine zunehmende Windschwäche und damit verbunden eine, auch für den Kirchenbesucher gut hörbare, Minderung der Klangqualität.
Als dann das elektronische Klavier im April 2010 in Betrieb genommen wurde, dachten wir noch, dies sei eine Maßnahme, die höchstens einige Wochen andauern würde. Damals gingen wir davon aus, dass nach den Renovierungen von Pfarrhaus und Pater-Delp-Haus ein Neubau der Orgel zwar wünschenswert, aber finanziell nicht möglich sei und erwarteten die Instandsetzung von Motor und Balg, wissend, dass dies eher ein Tropfen auf den heißen Stein, als eine solide Maßnahme gewesen wäre, da die Substanz der alten Orgel sehr heterogen und von unterschiedlicher Herkunft und Qualität war.
Diese Realität machten uns sowohl ein Orgelbauer einer Firma, die zur Instandsetzung herangezogen wurde, als auch der Sachverständige des Bistums klar, indem sie sagten, dass jede Investition in das alte Instrument unnötig ausgegebenes Geld sei. Wenn der Motor wieder adäquate Leistungen bringe, würden sich an anderen Stellen die Mängel umso mehr zeigen. Man füllt eben keinen neuen Wein in alte Schläuche. Zudem hätte dazu die gesamte Orgel abgebaut werden müssen, da die Bälge so in das Gehäuse eingebaut waren, dass ein einfacher Tausch nicht möglich war.
Es musste also ernsthaft über das nachgedacht werden, was einige von uns Organisten erhofft und lange vorhergesagt, Pfarrer und Verwaltungsrat befürchtet und die Gemeinde mehr oder weniger überrascht hat: Der Neubau der Orgel in der Gnadenkapelle.
Nach nur 3-jährigem Engagement konnte die neue Orgel von Matz & Luge zur Wallfahrt am 07.09.2013 wieder erklingen und wurde zu Beginn des Festgottesdienstes von Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann aus Mainz geweiht.
In gekürzer Fassung aus "Gnadenkapelle - Wallfahrtskirche zu Dieburg - Festschrift zur Orgelweihe",
Herausg.: Pfarrgemeinde St. Peter und Paul Dieburg, 2013