Schmuckband Kreuzgang

„Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit“

Impuls zu Johannes 18, 33-38, ökumenisches Friedensgebet am 10.04.22

Nikolai Nikolajewitsch Ge (1890):
Nikolai Nikolajewitsch Ge (1890): "Was ist Wahrheit" (Ausschnitt)
Datum:
So. 10. Apr. 2022
Von:
Gabriele Gaukel

Da ging Pilatus wieder in das Prätorium hinein, ließ Jesus rufen und fragte ihn: Bist du der König der Juden? Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus oder haben es dir andere über mich gesagt?

Pilatus entgegnete: Bin ich denn ein Jude? Dein Volk und die Hohepriester haben dich an mich ausgeliefert. Was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier.

Da sagte Pilatus zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.

Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit? Nachdem er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.

Joh 18, 33 - 38

Impuls

„Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit“ – dieses Zitat wird Hiram Johnson zugeschrieben, einem US-amerikanischen Politiker, der zu Beginn des letzten Jahrhunderts lebte.

Es fiel im Zusammenhang mit dem Beginn des ersten Weltkrieges. In einem Krieg, so ist es wohl zu verstehen, hat jede Partei ihre eigene Erzählung über das, was geschieht; weder die Gründe eines Konfliktes noch die vielen grauenvollen Einzelereignisse können glaubhaft objektiv nachvollzogen werden, sondern Berichte im Krieg über den Krieg dienen stets einer Seite zur Rechtfertigung des je eigenen Handelns. Emotionen und Energien sollen gebündelt werden, damit Ziele besser und schneller erreicht werden können.

Unabhängige Kriegsberichterstattung, militärische Regeln, die angepasst werden und Kriegsverbrecherprozesse nach einem Konflikt hatten immer das Ziel, eine gemeinsame Sicht auf die vergangenen Verwerfungen zu entwickeln, ein künftig hoffentlich friedlicheres Zusammenleben danach auf eine Rechtsgrundlage zu stellen und so auch der „Wahrheit“ wieder Raum zu geben.

Man sollte meinen, dass eine solche „Wahrheitsfindung“ heute im Zeitalter der multimedialen Vernetzung einfacher ist. Derzeit ist eine weitere Kriegswoche in der Ukraine vergangen; Vertreibung und unfassbares Leid zerstören eine Gesellschaft mitten in Europa und wir vollziehen das - zwar aus sicherer Distanz heraus, jedoch kaum zeitverzögert - mit. Die Bilder willkürlicher Gewalt gegen Zivilisten in Butcha oder des Raketenbeschusses eines Bahnhofs in der Ostukraine erreichen uns auf allen Kanälen und sie verstören. Ich bin der Überzeugung, dass unsere Medien sich um redliche Berichterstattung bemühen, schon allein wegen des ständigen Hinweises, die Angaben könnten nicht unabhängig überprüft werden. Ich weiß nicht, wie es Ihnen/Euch geht – mich macht die Behauptung russischer Militärs, es handle sich bei den Toten von Butcha um Schauspieler oder um eine ukrainische Rakete auf einen ukrainischen Bahnhof, fassungslos. Ich finde diesen Zynismus mindestens so zerstörerisch wie Bomben und Raketen, denn was dabei zerstört wird, ist das Vertrauen.

Denn es wird ja unterstellt, wir Menschen wären manipulierbar, steuerbar durch die Version der Geschichte, die am ehesten einleuchtet, durch das Bild, das uns am ehesten erreicht. Aber wenn alles nur Lüge ist, niemand irgendetwas glauben kann, man eigentlich keinem Bild trauen darf, was ist dann die Grundlage dafür, dass Recht geschaffen wird, dass denen Gerechtigkeit widerfährt die leiden, was ist dann „die Wahrheit“, auch über diesen Krieg?

Unser Text aus dem Johannesevangelium zeigt, dass auch Jesus genau diese Frage gestellt wurde. Pilatus möchte als Statthalter des römischen Kaisers zunächst nur wissen, ob Jesus dem Kaiser in dieser Region des Reiches gefährlich werden könnte: „Bist Du ein König?“, fragt er ihn. Die Antwort Jesu weist ihn aus als König, jedoch nicht nach irdischen zeitlich und räumlich begrenzten Kategorien; er möchte in dieser Welt Zeugnis ablegen für die „Wahrheit“. Was ist damit gemeint? In der Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit?“ scheint etwas Ähnliches durch wie das, was wir aktuell sehen, nämlich das destruktive Kleinreden der Bedeutung jeglicher Fakten durch die, die die Macht haben und sie nicht loslassen wollen. Trotzdem: Einfach zu verstehen ist der Zusammenhang zwischen den Begriffen „Königtum“ und „Wahrheit“ ja tatsächlich nicht.

Vielleicht so: Jesu Königtum beruht auf seiner Nähe zu Gott, in die er uns und alle Menschen mit hineinnehmen möchte in seinem Leben, seinem Sterben und in seiner Auferstehung. Ihm das zu glauben bedeutet, darauf zu vertrauen, dass Gottes Liebe stärker ist, als Macht und Gewalt. Diese Liebe möchte unter uns Gemeinschaft stiften. Wenn wir Menschen in Achtung und Liebe miteinander verbunden sind, können wir einander vertrauen und glauben - und uns auch glaubwürdig und vertrauenswürdig zeigen, wahrhaftig sein in Wort und Tat.

So kann die Wahrheit Raum bekommen über Grenzen hinweg, ein Reich wachsen, in dem die Liebe Gottes die Grundlage bildet für Frieden und Gerechtigkeit.

„Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit“. Ich habe gelesen, dass Hiram Johnson, der Mensch, der diesen Satz gesagt hat, sich in seinem Land einen Namen gemacht hat im Kampf gegen die zerstörerische Kraft der Korruption.

Ich selbst kann nicht beweisen, welche Nachricht stimmt, welches Bild authentisch ist, welche Fakten belastbar sind und welche alternativ. Aber ich weiß, dass ich mich nicht hineinziehen lassen möchte in den Strudel von Misstrauen, Hass und Resignation, sondern darauf vertraue, dass die Liebe Gottes und mit ihr die Wahrheit in Christus längst gesiegt haben und Recht geschaffen werden kann, auch für die Menschen der Ukraine.

 

Impuls zu Johannes 18, 33-38 als Dokument