Ich bin sicher: Das Schweigen ist weiter groß, Betroffene können sich oft nicht offenbaren, oder sie haben jedes Vertrauen verloren, dass ihr Leben für die Kirche eine Rolle spielt. In Gesprächen haben mir Betroffene gesagt, sie können Entschuldigungen nicht mehr hören, auch die Bekundungen von Bedauern und Bestürzung durch die Bistumsverantwortlichen empören sie eher, als dass sie darauf warten.
Ich sehe diese Studie als einen Schritt der Aufarbeitung. Wir werden nicht aufhören, Menschen einzuladen, ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Denn wir reden nicht über Zahlen und Statistiken, wir reden über Menschen. Und wir reden hoffentlich immer mehr mit Menschen, um von ihnen zu lernen. Daher danke ich sehr herzlich für den Mut der Vielen, sich an der Studie zu beteiligen und ihre Erfahrungen mitzuteilen. Ich wiederhole es: Die Möglichkeit, Erfahrungen und Informationen mitzuteilen, besteht weiterhin für alle, die es wollen.
Wir erfahren aus der Studie auch von vielen Beschuldigten und Tätern, von ihren Verhaltensweisen, von missbräuchlichen Beziehungsstrukturen und von Rechtfertigungsmechanismen, oft verbunden mit einem überhöhten Priesterbild oder Ich-Bezug. Besonders durch das Amtsverständnis wurden die Priester geradezu unangreifbar. Konkrete Beschreibungen von Übergriffen, Gewalt und Missbrauch machen mich und sicher viele andere wütend, traurig und sprachlos. Was geschehen ist und in der Studie beschrieben wird, ist wirklich böse, in einem ganz tiefen, auch theologischen Sinn. Das kirchliche System hat dieses Böse möglich gemacht und in einem erschreckenden Maße gefördert, indem Menschen das Gute nicht getan haben. Es gibt ein Versagen auf unterschiedlichen Ebenen.
Das öffentliche Interesse richtet sich natürlich auf die Bischöfe seit 1945. Den Bischöfen Albert Stohr, Hermann Volk und Karl Lehmann wird Versagen attestiert. Als Bischof von Mainz heute nehme ich dies ohne Überheblichkeit entgegen. Ich weiß nicht, wie ich gehandelt hätte. Heute stehen mir und uns andere Erkenntnisse und Leitlinien zur Verfügung. Dennoch hätten Verantwortliche auch vor 2017 nach Leitlinien handeln müssen, spätestens seit 2002, und oft ist dies nicht geschehen. Kaum jemand hat die Frage gestellt, wie es den Betroffenen geht; allzu lange wollten die Verantwortlichen nur das Ansehen der Kirche schützen, indem sie Schweigen oder Vertuschen einforderten.
Besonders die Vorwürfe gegen den geschätzten Kardinal Karl Lehmann haben viele erschüttert. In einem Fernsehbeitrag am 4. März 2023 im SWR wurden auf der Straße Menschen zu ihm befragt. Einige äußerten ihre Trauer, für sie war er eine „Lichtgestalt“ mit einem hohen moralischen Ansehen gewesen. Sie sind jetzt in der Situation, sich neu orientieren zu müssen. Dies lässt sie auch ihren Glauben und ihre Beziehung zur Kirche hinterfragen, von der sich jetzt Seiten zeigen, die sie bislang nicht sehen konnten. Das geht auch mir so, hat mich doch Kardinal Lehmann zum Bischof von Mainz geweiht. Als Bischof von Mainz stehe ich in der Tradition eines großen Bistums und großer Namen unter den Vorgängern. Allerdings gehören die dunklen Seiten auch dazu. Ein Mann stellte in dieser Fernsehsendung die berechtigte Frage: Darf man über einen Verstorbenen so urteilen? Allein mit der Betrachtung des jetzt aktuellen Themas wird man der gesamten Lebensleistung der Bischöfe Lehmann, Volk und Stohr sicher nicht gerecht. Aber es gehört dazu, und wir dürfen ihm nicht ausweichen. Und ich wiederhole aus meinem Statement vom 3. März: Um der Wahrheit der Betroffenen willen darf es keine unantastbaren Denkmäler mehr geben. Wenn wir uns der Vergangenheit stellen, tun wir dies, um für die Zukunft zu lernen.
Es gibt aber andere Stimmen, die sagen: So wie die genannten Bischöfe gehandelt haben, war es eben früher. Darauf will ich antworten: Wenn wir über die Missbrauchsthematik sprechen, dann sprechen wir nicht allein über Vergangenheit, sondern über Leben von Menschen heute. In der Studie finde ichzwei Gegenargumente gegen diese Beschwichtigung, so seien die Zeiten eben gewesen. Zum einen gab es durchaus Pfarrgemeinderäte, die gegenüber Beschuldigten und Tätern und der Bistumsleitung widerständig waren. Zum anderen hat bereits sehr früh der „Bund der Deutschen Katholischen Jugend“ (BDKJ) im Bistum Mainz seine kritische Stimme erhoben. Beide sind von den Verantwortlichen, auch von den Bischöfen, nicht gehört worden. Und wieder andere Stimmen meinen, man solle es doch nach so vielen Jahren jetzt gut sein lassen. Das kann ich nicht akzeptieren. Je schwerwiegender und brutaler der Missbrauch, desto mehr Zeit vergeht bis zur Meldung, sagt Rechtsanwalt Weber, und gerade diese Aussage zeigt: Diese Verbrechen können und dürfen nicht abgehakt werden.
Ich lese in der Studie über das Versagen nicht nur der Bischöfe, sondern eines ganzen Systems. Priester, manchmal auch andere Autoritätspersonen, wurden überhöht und auf ein Podest gehoben, oft haben sie dies selbst getan. Gemeinden haben das Spiel mitgemacht, Täter und Beschuldigte zu unterstützen und den Betroffenen nicht zu glauben oder sie gar unter Druck zu setzen. Auch dies ist kein Phänomen einer fernen Vergangenheit. Familien haben nicht hinsehen wollen, das Umfeld hat mit vertuscht. Betroffene fanden weder Gehör noch Glauben. Staatliche Stellen haben sich bis in die 1990er Jahre nicht immer rühmlich verhalten. Bei polizeilichen Befragungen war der Bistumsvertreter dabei, Jugendämter haben Kindern und Jugendlichen nicht geglaubt. Ich mag mir nicht vorstellen, welche Einsamkeit die betroffenen jungen Menschen erlitten haben. Gesellschaft, Politik und Theologie boten den Nährboden für kirchliches Handeln. Insofern ist es zu einfach, die großen Denkmäler allein vom Sockel zu stoßen. Eine Frau hat ihren Eindruck für das Bistum Mainz so ausgedrückt: Wir reden auf dem Pastoralen Weg vom Teilen. Vielleicht beginnt jetzt eine Phase, in der wir auch das Leiden teilen müssen. Ich halte dies für einen wegweisenden Gedanken. Wir müssen uns zugleich vor einem Generalverdacht und einer Atmosphäre des Misstrauens hüten. Der größte Teil der Priester, Seelsorgerinnen und Seelsorger sowie der Mitarbeitenden der Caritas leistet eine herausragende Arbeit. Ihnen will ich danken für das gemeinsame Weitergehen. Das gilt auch für die vielen Ehrenamtlichen in den Gemeinden und Kirchorten.
Die Studie nennt Grundhaltungen, die für die Zukunft wichtig sind. Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene müssen bei uns sichere Orte und Begleitung finden können. Dies kann nur gelingen, wenn wir eine Kultur der Achtsamkeit aufbauen und pflegen, bei der es nicht um die Großen geht, sondern um die Kleinen, die Schutz und Beachtung brauchen. Sie sollen Räume und Menschen finden, die ihnen glauben und zuhören. Dies kann gelingen, wenn wir das Evangelium ernst nehmen. Unsere Prävention ist auf dem richtigen Weg und wird auch noch einmal vor dem Hintergrund der Studie zu überprüfen sein. Im Ernstfall einer Intervention, also dann, wenn wir aufgrund eines gemeldeten Missbrauchsfalles konkret eingreifen, verfahren wir nach klaren Leitlinien, die in allen deutschen Bistümern gelten. Für manche mag dies auch heute noch nicht verständlich sein.
Bei der Lektüre der Studie wurde mir erneut bewusst, wie brennend die Themen sind, denen wir uns auch auf dem Synodalen Weg stellen: der Frage der Macht, dem Priesterbild, der Sexualmoral sowie dem Aufbrechen einer reinen Männerdomäne in der Kirche. Wenn es ein systemisches Versagen gab und bis heute die Gefahr dafür groß ist, dann werden wir um die Bearbeitung systemischer Fragen nicht herumkommen.
Für die Wochen der Österlichen Bußzeit wünsche ich Ihnen allen den Segen Gottes. Teilen wir unseren Glauben und das Leben, zu dem auch die jetzt offen-liegenden dunklen Seiten gehören. Mit dem Schuldbekenntnis der Messe beten wir um die Kraft, das Böse zu meiden und das Gute tun zu können.
So segne Sie alle der allmächtige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.
+ Peter Kohlgraf
Bischof von Mainz