Das Gebet in der Eucharistiefeier

Älteren Menschen in unserer Pfarrgruppe ist wahrscheinlich noch in lebendiger Erinnerung, was ich selbst nicht mehr erlebt habe: die lateinische Messe. 

Das Geschehen war ganz auf den Priester konzentiert, während die Gemeinde weitgehend die Rolle des Zuschauers innehatte. Sie folgte der heiligen Handlung, die sich im Altarraum vollzog, ohne wirklich zu verstehen und mitwirken zu können. Mit dem Erscheinen des Schott war es immerhin möglich, die lateinische Messe in deutscher Übersetzung mitzulesen. 

Die große Liturgiereform, die sich seit Beginn des letzten Jahrhunderts anbahnte und durch das Zweite Vatikanische Konzil zum Durchbruch kam, brachte einen Wandel. Das Leitwort der Konzilsväter hieß „Tätige Teilnahme.“ Die Liturgie sollte sich im Miteinander von Priester und Gemeinde vollziehen, die Gläubigen sollten nicht mehr nur Zuschauer, sondern Mitfeiernde sein. Ein wirkliches Mitfeiern aber setzt Verstehen voraus, und deshalb war die Einführung der Muttersprache in die Eucharistiefeier einer der wichtigsten Impulse des Konzils. 

Andererseits aber wollte man bei allem Willen zur Erneuerung die Brücken zur Tradition nicht abbrechen, und so ist unsere Liturgie geprägt von der nicht immer einfachen Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen geschichtlich Gewachsenem und der konkreten Lebenswelt der Menschen von heute. Genau diese Spannung kennzeichnet auch die Gebete der Eucharistiefeier: Da gibt es Gebete, die sich ganz der Tradition verpflichtet wissen: das gemeinsam gesprochene Vater unser, das auf Jesus selbst zurückgeht, sowie eine Reihe von Texten, die im Messbuch festgehalten sind und nach wie vor vom Priester als dem Leiter der Eucharistiefeier gesprochen werden. Dazu gehören das Hochgebet mit den Abendmahlsworten und die täglich wechselnden Gebete, die unsere Feier begleiten: das Tagesgebet, das Gabengebet und das Schlussgebet. 

Anders als früher werden diese Priestergebete heute auf Deutsch gebetet, und doch ist uns ihre Sprache manchmal fremd. Man spürt ihnen an, dass sie den kunstvollen lateinischen Texten nachempfungen sind, die ihnen zugrunde liegen und von denen die ältesten bereits 1500 Jahre alt sind. Manchmal ist es deshalb gut, wenn der Priester ihr Anliegen in schlichtere Worte fasst. Und doch bin ich dankbar für diese Gebete. Es sind „Worte, die größer sind als wir selbst.“ Sie lassen uns erfahren, dass wir mit unserem Beten und Feiern nicht alleine stehen, sondern eingebunden sind in die Gemeinschaft der Glaubenden. Diese alten Gebete verbinden uns mit all den Christen vor uns und nach uns und überall auf der Welt. 

Dasselbe Tagesgebet, das wir in unserem Gottesdienst hören, wird rund um den Erdkreis in den unterschiedlichsten Sprachen gebetet. Dieses Wissen tut mir gut. Es bestärkt mich in meinem eigenen Glauben, und es entlastet zugleich mein eigenes Beten. Ich darf ruhig bei einem der vorgetragenen Gebetsgedanken verweilen, vielleicht bei der preisenden Anrede, vielleicht beim Dank, vielleicht bei der Bitte. Jeder Beter wird seinen Akzente setzen und so fügt sich unser aller Gebet zusammen zu dem einen großen Gebet der Kirche, in das ich mit meinem Amen einstimme. 

Darüber hinaus ist in diesen traditionellen, geformten Gebeten von jeher auch ein Platz für unser eigenes, persönliches Gebet vorgesehen. Die Gebetsaufforderung der Priesters „Lasset uns beten“ und die anschließende kurze Stille soll unseren eigenen Gebetsgedanken Raum geben, die im anschließenden Gebet des Priesters zusammengefasst werden. 

Aber nicht nur in der Stille ist in der Eucharistiefeier Raum für unser persönliches Beten. Das wäre zu wenig und das war auch den Konzilsvätern zu wenig. Sie wollten, dass unsere Anliegen wirklich zur Sprache kommen, und so kam es zur Wiedereinführung des Fürbittgebetes, das 1400 Jahre lang aus der Eucharistiefeier verschwunden war. Die Fürbitten sind nicht vorformuliert; hier geht es nicht um Tradition, sondern um uns heute. In den Fürbitten beten wir mit unseren eigenen Worten für die Kirche, für die Menschen in der Welt und für uns selbst - ganz konkret, ganz persönlich. Wir Menschen brauchen das Fürbittgebet. Es ist eine Chance für uns. Es kann uns helfen, dass wir uns darüber klar werden, was uns wirklich gut tut. Das Fürbittgebet kann aber auch unseren Blick schärfen für das, was unsere Welt, unsere Kirche, braucht. Es kann uns aufmerksamer machen für all die Not in der Nähe und Ferne und es kann uns befähigen, unsere Mitmenschen mit anderen, mit Gottes Augen, zu sehen und ihnen mit mehr Verständnis, Phantasie, Hilfsbereitschaft und Liebe zu begegnen. „Worte, die größer sind als wir“ – dies gilt auch für das Fürbittgebet. Im Fürbittgebet liegt eine große Kraft. Wenn wir uns ernsthaft darauf einlassen, dann wird es uns uns unsere Welt verändern.

Angela Eckart