Wieder liegt die Jahresstatistik aus dem vergangenen Jahr auf meinem Schreibtisch, die nicht unkommentiert abgedruckt werden soll. Zunächst nur nüchterne Zahlen und zugleich denke ich an die vielen erfrischenden Begegnungen, intensiven Gespräche und schönen Gottesdienste zum Beispiel im Zusammenhang einer Taufe oder Trauung. Ich bin sehr dankbar für diese Erfahrungen, für das Vertrauen und das hohe Engagement so vieler Menschen in unserer Pfarrgemeinde. Seit vielen Jahren versuchen wir „Kirche vor Ort“ zu sein, eben eine einladende und menschennahe Gemeinde, die versucht die Menschen selbst, ihre Lebenssituationen und spirituellen Sehnsüchte in den Mittelpunkt zu stellen.
Gleichzeitig spüre ich, dass „Kirche vor Ort“ und „die Kirche“ nicht mehr selbstverständlich in allen Bereichen zusammengehören. Die Kluft und Diskrepanz zwischen dem eigenen Bild von Kirche und dem derzeitigen Zustand von der Institution Kirche führt zunehmend zu einer inneren Zerrissenheit und eine Ambivalenz, die kaum zum Aushalten ist. Nicht nur im Hinblick auf die seit Jahren nicht genehmigte Innensanierung unserer Pfarrkirche St. Georg arbeiten wir uns immer wieder an der „Hierarchie“ ab – mit mäßigem Erfolg. Und nicht wenige fragen, ob sich diese Energie und der hohe Kraftaufwand noch „lohnt.“
Und dann die Zahl der „Kirchenaustritte“ aus dem vergangenen Jahr, die meine Nachdenklichkeit zusätzlich erhöht: Hatten wir bereits 2021 diesbezüglich einen traurigen „Rekord“ festzustellen, wird dieser für das Jahr 2022 nochmals um 50% „getoppt“. 158 Menschen aus unserer Pfarrgemeinde haben offiziell den Austritt erklärt, - einige kenne ich persönlich und weiß um ihre Fragen, Enttäuschungen und Verletzungen. Von vielen erhalte ich auch eine Antwort auf unser Schreiben nach einem Kirchenaustritt: Die Gründe hierfür sind sehr oft die großen Reformthemen, die nicht oder sehr ungenügend angegangen werden. Der offizielle Kirchenaustritt ist für viele die einzig mögliche individuelle Antwort auf die Situation der Institution Kirche, die sich so unendlich schwer tut mit einer echten Geschlechtergerechtigkeit, mit Beteiligung/Synodalität auf Augenhöhe, mit Macht teilen, … (Zitat: „… hier ändert sich doch nichts, dann entziehe ich der Kirche meine finanzielle Unterstützung …“). Meine Erfahrung ist: Viele der „Ausgetretenen“ sehen sich weiterhin als Christ oder Christin, als gläubige und spirituelle Menschen, wollen aber mit der „Großorganisation Kirche“ nichts mehr zu tun haben.
Die Pastoraltheologen, Soziologen und Sozialwissenschaftler sagen fast übereinstimmend, dass sich dieser „Megatrend“ des Kirchenschwunds (bereits heute sind weniger als 50% der deutschen Bevölkerung noch Mitglied einer christlichen Amtskirche), nicht mehr aufhalten lässt – ohne wirkliche Reformen und Veränderungen im Kirchensystem schon gar nicht.
Können wir – dennoch und trotzdem – etwas als Pfarrgemeinde tun? Mich hat eine Initiative einer katholischen Pfarrei in Leipzig sehr angesprochen, die ausdrücklich auf Ausgetretene zugeht und sie explizit einlädt. Ähnlich wie in Leipzig möchten wir als Pfarrgemeinde alle (!) Ausgetretenen, - die es möchten -, weiterhin einladen, am Gemeindeleben teilzunehmen, auch an Gottesdiensten und Sakramentenempfang. Wir sehen es geradezu als eine seelsorgliche Notwendigkeit an, alle (ausgetretenen) Menschen weiterhin einzuladen, mit ihnen in Kontakt zu bleiben oder den Kontakt neu zu suchen und ihnen zu vermitteln, dass sie dazugehören und in der ‚Kirche vor Ort‘ mitentscheiden und mitgestalten können.
Ich weiß, dass dies nur ein kleines Zeichen ist, aber immerhin ein Zeichen für eine ‚Kirche vor Ort‘, die versucht, die menschliche Botschaft Jesu Christi im „Hier und Heute“ wahr werden zu lassen.