Zur Geschichte der Rochuswallfahrt in Bingen

Im Jahre 1666 wütete die Pest in unserer Region derart heftig, dass ihr fast ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer fiel: Am 4. Mai musste, „weil die Ansteckung nicht nachlassen will“, den Totengräbern ein Extra-Salär für die zahlreichen Begräbnisse in Aussicht gestellt werden. Außerdem sorgten sich die Stadtväter um weiteres medizinisches Personal und bemühten sich, einen Barbier zur Krankenversorgung in Dienst zu stellen.

Dann galt es aber auch, aller Seuche zum Trotz, den „Wirtschaftsstandort Bingen“ nicht aus den Augen zu verlieren. So wurde beschlossen, wenigstens das Mehl durch Schütten an der Salzpforte herauszugeben und den Bacharachern damit das Einkaufen in Bingen ohne jeden Personenkontakt zu ermöglichen.

Inzwischen war die Basilika zum Krankenhaus umfunktioniert worden und die dort lagernden Patienten sollten täglich ihre Ration an Fleisch, Brot und Wein erhalten: Den Wein aus den Beständen des Siechenhauses, das Brot von der Kirche und das Fleisch auf Pump vom Metzger. Ebenso sollte der Apotheker angehalten werden, auch diejenigen Patienten zu versorgen, die ihre Medikamente nicht bezahlen konnten. Stadt und Kirche wollten dann gemeinsam für die Forderungen einstehen.

Doch nachdem alles Organisationstalent der Ratsherren schließlich nicht ausreichte die Seuche zu besiegen, und da das schreckliche Geschehen überhaupt von Menschenhand alleine nicht zu beenden schien, suchten die Stadtväter Beistand bei einer höheren Instanz. Im Namen der gesamten Bürgerschaft gelobte man den Bau einer Kapelle zu Ehren des heiligen Rochus auf dem Hesselberg.

Am 17. Juli sah sich der Amtmann des Domkapitels allerdings veranlasst, die Ratsherren darauf hinzuweisen, dass es mit dem Gelübde noch nicht getan sei, sondern dass man sich nun auch um eine anständige Ausführung des Kirchenbaus zu kümmern hätte.[1] Daher wurden der Bürgermeister und zwei von der Gemeinde damit beauftragt, die Bauarbeiten regelmäßig zu inspizieren und über alles Buch zu führen.

Dann endlich, am 13. September 1666, findet sich in den Ratsprotokollen die erlösende Notiz, dass nunmehr – „dem Allerhöchsten sei Dank“ – die Pest im Abnehmen begriffen sei. So beginnt die Geschichte von Rochuswallfahrt und Rochuskapelle in Bingen.

Knapp 150 Jahre später, 1814, waren es wieder dramatische Zeitläufte, als die zweite Epoche der Binger Rochuswallfahrt begann. Fast zwanzig Jahre lang hatten französische Revolutionstruppen zuvor die volkstümliche Prozession unterdrückt; die Kapelle wurde zweckentfremdet und dem Verfall preisgegeben.

Dann, wie so oft in Kriegszeiten, wenn die Versorgungslage schlecht ist und Kriegsleute von Ort zu Ort ziehen, kam es in Bingen erneut zu einer Epidemie: Die Menschen starben massenhaft am Fleckfieber. Da brachte der Wiederaufbau der Rochuskapelle und eine erste Wallfahrt am 16. August den Menschen neue Hoffnung – jenes „politisch-religiöse Fest zu feiern, welches für ein Symbol gelten sollte des wiedergewonnenen linken Rheinufers sowie der Glaubensfreiheit an Wunder und Zeichen.“ So wohlwollend erinnerte sich bekanntlich Goethe als Augenzeuge in klassisch gewordenen Formulierungen des Geschehens und stiftete der Kapelle dann gar ein Gemälde…

Dann kam der 12. Juli 1889 und der Blitz schlug in die Kirche ein, die in Brand aufging und bis auf die Grundmauern zerstört wurde. Als regelrechtes katholisches Gegendenkmal zum Niederwalddenkmal, das 1883 die Wacht auf der rechten Seite des Rheins bezogen hatte, wurde die 1895 fertig gestellte, neue Rochuskapelle angesehen.

Schon die Predigt des Mainzer Bischofs Paul Leopold Haffner bei der Einweihung enthielt diesbezüglich eine deutliche politische Botschaft: „Die göttliche Vorsehung [...] hat es in ihrer Weisheit gefügt, daß dem stolzen, kalten Denkmal gegenüber eine ehrwürdige, lebenswarme Kirche erwuchs. Die göttliche Vorsehung wollte die deutschen Fürsten und das deutsche Volk damit ermahnen, nicht zu vergessen, daß man mit äußerer Gewalt, mit Waffenglück und Kriegsmacht Reiche zwar stürzen und gründen, nicht aber erhalten kann. Des Kaisers Majestät und des Reiches Wohl bedarf der Stütze der Religion.

Als der Architekt Max Meckel seit 1890 den Neubau der (im Jahr zuvor durch Blitzschlag zerstörten) Rochuskapelle entwarf und aufführte, gab er auch einen neuen Altar für die Rupertus- und Hildegard-Reliquien vom ehemaligen Kloster Eibingen in Auftrag, die sich schon seit 1814 in der alten Rochuskirche befunden hatten. Auf dem Altar sollte – nach dem Vorbild eines alten Altargemäldes aus Eibingen – ein Hildegard-Zyklus mit den wichtigsten Stationen ihrer Vita Darstellung finden.

Tatsächlich wurde das inhaltliche Programm der alten Eibinger Bildvorlage denn auch weitgehend in den neuen Schnitzaltar der Rochuskapelle überführt – mit einer bemerkenswerten Ausnahme jedoch: Neu hinzu kam nämlich die Darstellung einer Begegnung zwischen Hildegard von Bingen und Kaiser Friedrich Barbarossa. Dem thronenden, standesgemäß mit Krone, Schwert und Zepter ausgestatte Kaiser gegenüber steht hier die Äbtissin und erhebt ihren Zeigefinger zur Warnung. Diese Szene war auf dem alten Eibinger Hildegardis-Altar nicht vertreten und hatte überhaupt bis dato nirgendwo in den biografischen Tradition über die Binger Prophetin irgend eine Rolle gespielt.

Jetzt aber traf das in der Rochuskapelle erstmals Bild gewordene Ereignis aus dem Leben der Heiligen offenbar den katholischen Nerv der Zeit. So wie der fromme Kaiser Friedrich sollte endlich auch der sture Kaiser Wilhelm, der sich übrigens auch selbst gerne als „Weißbart“, „Barbabianca“, in der Tradition Barbarossas sah, Vernunft annehmen und den Beistand der katholischen Kirche lieber erbitten, anstatt sie zu bekämpfen.

Der „Kulturkampf“ zwischen Kirche und Staat ist heute längst Geschichte. Unerwartete Aktualität indes hat im Corona-Jahr 2020, in dem wir den 125. Geburtstag der Rochuskapelle begehen, die Sorge vor Ansteckung mit einem gefährlichen Krankheitserreger erhalten, mit der die Geschichte der Kapelle einst schon begann. Aber auch das lehrt die mehr als 350jährige Geschichte von Rochuswallfahrt und Rochuskapelle in Bingen: Es werden gewiss wieder bessere Zeiten kommen.

 

Dr. Matthias Schmandt

 

[1] Vgl. auch Krasenbrink, St. Rochuskapelle, S. 9