Advent heißt Ankunft: Ankommen in der Wirklichkeit
"Ich möchte in dieser Adventszeit ankommen in der Wirklichkeit, die mich umgibt und in der ich lebe und ihr mit Zuversicht begegnen, die vielen Perspektiven und Facetten wahrnehmen und darin Gott entdecken. In dieser Zuversicht wünsche ich Ihnen einen gesegneten ersten Advent." sagt Stephanie Rieth in ihrer Predigt zum 1. Advent.
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Ich könnte jetzt noch eine ganze Weile so weitermachen - unsere Tageszeitungen sind voll von diesen Themen, unsere Welt ist voll davon. Willkommen in der Wirklichkeit.
Wenn man darüber einmal näher nachdenkt - und mich macht das sehr nachdenklich, was ich tagtäglich in den Nachrichten höre und sehe - dann ist das eine ziemlich traurige Wirklichkeit, eine die mich besorgt macht, mich manchmal ängstigt oder auch verzweifeln lässt, eine, bei der ich mich manchmal frage: ist sie nicht gottlos - unsere Welt, unsere Wirklichkeit?
So wie es in unserer Welt zugeht, ist das nicht ein Zeichen, dass wir Gott los geworden sind?
Der Text aus dem Matthäusevangelium, den wir heute hören, die Bilder, die darin beschrieben werden, haben irgendwie eine Ähnlichkeit mit den Bildern dieser Tage. Es klingt so, als seien sie auch in unsere Welt heute gesprochen:
„Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen
und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein
über das Toben und Donnern des Meeres.
Die Menschen werden vor Angst vergehen
in der Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen;
denn die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden.“
Ja, sicher, ein bisschen dramatischer formuliert, aber irgendwie doch mit einem hohen Wiedererkennungswert.
Kriegsherde, die immer wieder aufbrechen, ohne die Perspektive auf dauerhaften Frieden zu fairen Bedingungen: in der Ukraine nun schon seit fast drei Jahren und auch im Nahen Osten weitet sich der Konflikt aus zu einem Flächenbrand, kein Ende ist in Sicht.
Umweltkatastrophen, die uns zeigen, wie machtlos wir sind und wie überfällig nachhaltige Klimaschutzmaßnahmen sind.
In den USA ein neuer alter Präsident, der viele genauso entsetzt, wie die Aussicht, dass mehr und mehr extremistische Parteien hier bei uns Einzug in die Landtage halten.
Verteilungskampf, Unrechtsempfinden, die Angst zu kurz zu kommen, eine Gesellschaft, die auseinanderrückt, jeder scheint sich selbst der Nächste.
Eine Regierung, die angesichts von vielen offenen Fragen aufgibt und ihr Scheitern eingestehen muss.
Eine Neuwahl in wenigen Wochen, aber keine wirklich neuen politischen Ideen und Konzepte.
Eine Kirche, die in einer Spannung lebt zwischen Rufen nach Veränderungen und Reformen und Angst vor eben diesen.
Ist unsere Welt gottlos geworden? Sind wir Gott los geworden?
Vielleicht sind Sie heute hierher gekommen und haben eigentlich etwas ganz anderes erwartet, etwas für`s Herz, haben sich auf einen schönen Start in eine besinnliche Zeit gefreut und wollen sich gerade jetzt nicht auch noch hier im Gottesdienst mit all den Schreckensnachrichten und Schlagzeilen umgeben, die uns Tag für Tag begegnen.
Aber was ist die Alternative: die Augen verschließen, die Wirklichkeit ausblenden, an ihr vorbei sehen? Das mag für einen Moment gut gehen, aber irgendwann holt uns die Wirklichkeit ein.
Wenn wir die Adventszeit als das ernst nehmen, was sie von ihren Wurzeln her eigentlich ist - nämlich eine Zeit der inneren Neuausrichtung, der Vorbereitung darauf, dass Gott ankommt, dann will sie uns einladen, uns gerade nicht in ein romantisches Weihnachtsgefühl zu flüchten, uns nicht einlullen zu lassen von weihnachtlicher Musik, von Glühwein und Plätzchenduft.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch ich mag die vorweihnachtliche Stimmung, Plätzchenduft, den Weihnachtsmarkt und die vielen Lichter, die ich sehe, wenn ich am Abend das BO verlasse.
Aber die Adventszeit ist der Raum für mehr als das: Advent heißt Ankunft und Ankunft heißt: Ankommen in der Wirklichkeit. Das bedeutet, unserer Wirklichkeit mit offenen Augen zu begegnen, der Wirklichkeit unserer Welt, unserer Kirche und unseres eigenen Lebens. Die Adventszeit lädt uns ein, ganz genau hinzuschauen, die Wirklichkeit mit all ihren Herausforderungen und Zumutungen, mit all ihren Facetten anzunehmen, weil - wenn wir das biblische Zeugnis Ernst nehmen, Gott in dieser Wirklichkeit verborgen ist und weil ihm zu begegnen am Ende heilsam ist.
Nein, unsere Wirklichkeit ist nicht gottlos, wir sind Gott nicht los geworden, weil sich Gott nicht einfach loswerden lässt.
Denn unser Gott ist ein Schöpfergott, der sich bei der Erschaffung allen Seins in diese Wirklichkeit hineingegeben hat, mit seiner ganzen Wirkkraft, mit seiner ganzen Liebe. Er lebt in dieser Wirklichkeit, ist aufs Engste mit ihr verbunden, mit uns Menschen und unserer Geschichte. Davon erzählt das Alte Testament. Die Erzählungen unserer Erzmütter und -Väter, die Erzählungen über Mose, die Könige, die Prophetinnen und Propheten. Sie alle haben erlebt: Gott ist einer, der sich in der Wirklichkeit, in ihrem Leben erfahrbar gemacht hat.
Auch der Text der heutigen Lesung aus dem Buch des Propheten Jeremia bezeugt einen Gott, der in der Wirklichkeit lebt und wirkt:
„In jenen Tagen und zu jener Zeit“, heißt es bei Jeremia,
„werde ich für David einen gerechten Spross aufsprießen lassen.
Er wird Recht und Gerechtigkeit wirken im Land.
In jenen Tagen wird Juda gerettet werden,
Jerusalem kann in Sicherheit wohnen.“
Das ist nicht einfach eine schöne Geschichte oder eine Ermutigung nach dem Prinzip: Na, das wird schon. Es ist ein Hoffnungswort, eine Verheißung.
Der Prophet Jeremia spricht zu seinem Volk, das in der tiefsten vorstellbaren Krise steckt. Jerusalem ist zerstört, das Volk Israel ist im Exil. Doch Jeremia ruft eine erstaunliche Botschaft in diese trostlose Wirklichkeit hinein: „Seht, Tage kommen – Spruch des Herrn –, da erfülle ich das Heilswort, das ich über das Haus Israel und das Haus Juda gesprochen habe“ (Jer 33,14).
Gott verspricht einen „gerechten Spross“, einen König, der Recht und Gerechtigkeit bringt. Diese Verheißung scheint angesichts der zerstörten Stadt und des zerbrochenen Lebens der Israeliten fast absurd. Aber Jeremia ist überzeugt: Gott kommt nicht nur in strahlende Paläste oder heile Welten – Gott kommt inmitten von Chaos, Zerstörung und Unrecht.
Und ein Spross ist erst einmal klein, zart, unscheinbar. Hoffnung beginnt oft im Kleinen. Es ist wie das Licht der ersten Adventskerze: ein kleiner Schein, der die Dunkelheit nicht sofort vertreibt, aber einen Anfang macht.
Jeremia spricht vom Heilswort Gottes: Gott will das Heil des Menschen und Gott steht in Treue zu seinem Wort. Vielleicht ist es unsere Aufgabe, als Christinnen und Christen immer wieder zu versuchen, aus dieser Hoffnung zu leben und zu handeln. Aus dieser Hoffnung heraus Brücken zu bauen in unsere Gesellschaft, für Gerechtigkeit einzutreten und uns für die Würde eines jeden Menschen einzusetzen.
Ich will noch einmal die Tageszeitung aufschlagen:
365 Tage im Einsatz für schwerstkranke Kinder
Letzte Chance auf Behandlung - Auf dem Gelände der Helios-HSK gibt es eine Sprechstunde für Menschen ohne Krankenversicherung
Weihnachtspakete für Valencia
Jeder Person die Hilfe geben, die sie benötigt - Die Stadt hat ein „Hotel Plus“ eröffnet, um psychisch erkrankten Obdachlosen zu helfen
Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit
Immer mutig vorangeschritten - Jahrzehntelanges Engagement für Frauenrechte, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit:
Diese und viele Nachrichten mehr finden sich auch in den Tageszeitungen. Wenn wir den Blick verengen, nur die Katastrophen sehen, dann sehen wir eben nur einen Teil der Wirklichkeit.
„Ankommen in der Wirklichkeit“ heißt, die Welt nicht nur in ihrer Zerbrechlichkeit zu sehen, sondern auch in der Verheißung Gottes, die in ihr liegt. Dazu lädt uns die Adventszeit ein. Die Zeitung soll uns als Symbol durch diese erste Woche im Advent begleiten - ich lege sie gleich an die Krippe.
Das Heilswort Gottes, von dem Jeremia spricht, gilt nicht irgendwann in der Zukunft – es gilt jetzt, wenn wir die Gerechtigkeit, von der er redet, zum Maßstab unseres Handelns machen und unsere Wirklichkeit gestalten.
Advent bedeutet: Gott kommt. Aber er kommt nicht in eine perfekte, aufgeräumte Welt – er kommt in das, was ist, in unsere Wirklichkeit, so wie sie ist. Und das bedeutet, dass auch wir den Mut haben dürfen, in der Wirklichkeit anzukommen, statt vor ihr zu fliehen. Weil Gott in ihr wohnt und wir ihm da begegnen können. Jesus selbst spricht uns Mut zu - wir hören es im Evangelium: „Wenn dies beginnt“, sagt er und er meint all das, was uns an dieser Wirklichkeit Angst macht und besorgt, „dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe.“
Und dann ist es wichtig, immer wieder auch den Blick nicht nur auf die Katastrophen zu richten, sondern ganz bewusst auch die Hoffnungsgeschichten zu lesen - nicht immer verbergen sie sich hinter großen Schlagzeilen. Aber sie sind ins Leben geschrieben, in unsere Wirklichkeit.
Gestern hat mir eine Mitarbeiterin eine solche Hoffnungsgeschichte mit auf den Weg gegeben. Eine kleine Geschichte nur, aber sie war noch ganz gerührt, als sie mir von ihrem Erlebnis erzählte. Zwischen zwei Terminen wollte sie schnell auf den Markt und hat dort an einem Stand einen schönen großen Adventskranz entdeckt. Der Verkäufer hatte nur noch diesen einen Kranz, alle anderen waren schon ausverkauft. Sie hatte kein Bargeld dabei und keine Zeit, welches abzuheben. Der Verkäufer hat nur kurz nachgedacht und ihr dann den Kranz mitgegeben, im Vertrauen darauf, dass sie ihm das Geld später überweist. Die Rührung, die Freude über diese Begegnung und so etwas wie Hoffnung war ihr ins Gesicht geschrieben - auch Stunden später noch.
Ich möchte in dieser Adventszeit ankommen in der Wirklichkeit, die mich umgibt und in der ich lebe und ihr mit Zuversicht begegnen, die vielen Perspektiven und Facetten wahrnehmen und darin Gott entdecken.
In dieser Zuversicht wünsche ich Ihnen einen gesegneten ersten Advent.
Predigt zum Ersten Advent in der Predigtreihe 2024 der Pfarrei St. Rochus Mainz-Kastel/Amöneburg