Flugs kletterte er über das Gitter. In unmittelbarer Nähe der Heiligen wollte er sein – und nicht weit entfernt im Kirchenschiff sitzen.
So oder so ähnlich beginnt eine Legende über Hermann Josef von Steinfeld, den Heiligen der Eifel.
Als kleiner Junge habe er bei einem Kirchenbesuch Maria mit dem Jesuskind hinter dem Chorgitter gesehen, wollte nicht länger allein sein und habe daher kurzerhand die Gesellschaft der beiden Heiligen gesucht. Da der Kleine in dieser Gemeinschaft gänzlich die Zeit zu vergessen drohte, wies ihn Maria mütterlich darauf hin, dass er nach Hause zu seinen Pflichten zurückkehren müsse. So stieg er von neuem über das Gitter, verletzte sich jedoch dabei. Die Wunde sollte ihn fortan an diesen heiligen, glückseligen Augen-Blick erinnern.
Das Heilige wird erst dort erfahrbar, wo der Mensch über das Gitter steigt, die Grenze seines Denkens transzendiert, um das ewige Geheimnis zu finden, das unendlich größer ist als er selbst und das seinem Dasein Sinn gibt. Aber die Begegnung mit dem Heiligen lässt sich weder erzwingen noch zeitlos bewahren – nur liebend erinnern und gelassen erhoffen. Wer sie erfährt, geht verändert, verwundet aus dieser heilsspendenden Begegnung hervor (vgl. Gen 32,23-33). Die Wunde ist Denkmal, zukunftsweisende Erinnerung an die wunderbare Berührung des Heiligen.
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Gen 32,23-33 = Altes Testament, Buch Genesis, Kapitel 32, Verse 23-33
Das Heilige verkörpert einen Bereich, dessen Charakteristikum darin besteht, von einem anderen Bereich abgesondert zu sein. Die sprachliche Wurzel (hebr. qādōš, gr. Hagios, lat. sanctus von sancire: umschließen, umgrenzen) deutet an, „dass es bei der Frage nach dem Heiligen primär nicht um eine inhaltliche Bestimmung dessen geht, was heilig ist, sondern um das Anzeigen des Raumes, in dem das Göttliche sich in seiner spezifischen Weise offenbaren kann.“ Dem Bereich des Heiligen steht der Bereich des Profanen gegenüber, dessen was vor (pro) dem Bezirk (fanum) des Heiligen liegt.
Das Heilige stellt eine Grundkategorie religiöser Erfahrung dar. Rudolf Otto hat es als das „mysterium tremendum“ und „mysterium fascinans“ bestimmt (vgl. R. Otto, Das Heilige, 1917), als jenes Geheimnis, das den Menschen erschrecken lässt und ihn zugleich fasziniert. Als Ganz-Anderes entziehe es sich der rationalen Erkenntnis. Es könne nur erlebt, aber nicht begrifflich begründet werden. Aber wird die Betonung des emotionalen Verzaubertseins im Staunen bzw. Erschrecken und die gleichzeitige Ablehnung eines rationalen Verstehens dem Heiligen gerecht?
Ein Blick auf die geistesgeschichtlichen Hintergründe verdeutlicht, dass sich Otto mit dieser Polarisierung bestimmten Tendenzen im Gefolge der Aufklärung zur Wehr setzt, die Religion rationalistisch erklären oder auf das Ethische reduzieren wollten. Demgegenüber sollte das Spezifische des Heiligen und der Religion hervorgehoben werden.
Die Alternative eines rein psychologisierenden Ansatzes einerseits und eines wissenschaftlich objektiven andererseits erweist sich jedoch als ungeeignet, um die religiöse Erfahrung bzw. Haltung vom bloßen theoretischen Interesse an der Wahrheit, von der ästhetischen Lust am Schönen oder von der ethischen, auf das Gute ausgerichteten Haltung zu unterscheiden.
Anstelle des Gegensatzes von Irrationalem oder rein rational Erfahrbarem ist die Haltung der Gelassenheit gefordert, die als „lassendes Denken“ (Klaus Hemmerle) beschrieben werden kann. „Eine derart vernehmende Vernunft würde das Heilige nicht nur als unverfügbares Geheimnis und Heil erwarten, sondern als „Freiheits- und Personalwirklichkeit“ (Jörg Splett, Die Rede vom Heiligen), die Gericht und erlösende Gnade bringt. Diesem Heiligen, das mit dem Name „Gott“ benannt wird, begegnet die Vernunft in der Haltung der Anbetung.“ Der Mensch respektiert mit einem Akt seiner Vernunft, dass er das Heilige nicht herbeizwingen, sondern ihm nur in einer Offenheit begegnen kann, in der er sich selbst transzendiert.
Hier zeigt sich neben der von Otto thematisierten Polarität des Heiligen, das beseligt und schaudern lässt, noch eine zweite Polarität im Heiligen, die des unberührbaren Berührenden:“ zwar kann die Vernunft „den Abgrund zwischen sich und dem Heiligen nicht von sich aus überbrücken – das Heilige bleibt kraft seiner unbedingten Erhabenheit unberührbar“ –, aber das Heilige bleibt nicht distanziertes Neutrum, sondern schenkt sich dem Menschen, indem es von sich aus die Vernunft in der personalen Begegnung berührt. „Das Heilige ist von sich her – zu mir her. Von sich her, d.h. nicht von mir her, das uneinholbar Frühere und Andere, so aber mich Einbegreifende, einbegreifend nicht wie ein Allgemeinbegriff, unter den ich fiele, sondern mich im Eigensten und Innersten bewegend und anschauend.“ (Klaus Hemmerle, in: Sacramentum Mundi II, 579)
Dieses Moment der Unverfügbarkeit des Heiligen zeigt sich in vielen Religionen: „dem unmittelbaren Zugriff des Menschen entzogen, manifestiert sich das Heilige mit überwältigender Macht. Es offenbart sich als äußerster Horizont menschlichen Strebens, dem religiöse Verehrung und Scheu entgegengebracht wird.“
Im Christentum bringt „der Begriff des Heiligen die Göttlichkeit Gottes zum Ausdruck und reflektiert die geschichtliche Erfahrung des biblischen Gottes. Die Bezeichnung qādōš (heilig) bedeutet seiner Wurzel nach so viel wie „aussondern“ und bezeichnet im Alten Testament die unvergleichliche Erhabenheit und Macht Gottes gegenüber der Nichtigkeit des Menschen. Als von Gott erwähltes Volk ist Israel in Abgrenzung von allen anderen Völkern heilig. Die Verbindung „Heiliger Geist“ und die Bezeichnung der Christen als „Heilige“ sind spezifisch neutestamentlich. Zur Heiligkeit von Gott berufen, sollen die Gläubigen ihre Heiligkeit im Leben bewähren und die Gemeinschaft der Kirche bilden, die durch Christus geheiligt wurde.
So bringen die biblischen Schriften im Begriff „heilig“ die befreiende und rettende Erfahrung des personalen Gottes zum Ausdruck, der zwar von der Welt absolut verschieden ist, der aber den Menschen als sein Abbild dem rein Profanen enthoben und auf sich bezogen hat.“
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zitiert nach Stephan Loos, Art. Heilig / Das Heilige, in: A. Franz/W. Baum/K. Kreutzer, Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie, Freiburg (Herder) 2003, 186f.
Gen 32,23-33: Altes Testament, Buch Genesis, Kapitel 32, Verse 23-32
Autor(en): Stephan Loos