Der Glaube hat eine jüngere Schwester, die Vernunft, die er eigentlich mag, weil sie oft Fragen stellt, die er sich gar nicht zu fragen traut. Die Vernunft hat einen älteren Bruder, den Glauben, der schon oft versucht hat, ihr die Probleme abzunehmen und sie als der ältere Bruder zu gängeln und zu bevormunden. Lange Zeit waren die Geschwister getrennt und bekämpften sich sogar, besonders als die Vernunft sich als „Aufklärung" von ihrem Bruder lossagte. In jüngster Zeit reden sie wieder miteinander:
Vernunft:
„Mein lieber Bruder, du glaubst an Gott und vertraust angeblich darauf, dass alles in der allmächtigen und gütigen Hand Gottes ist. Das ist total unvernünftig. Ich könnte dir tausend Beispiele nennen, wo von der Allmacht und Güte Gottes nichts zu spüren ist: vom Tsunami über die Konzentrationslager bis hin zum Sterben von leukämiekranken Kindern."
Glaube:
„Das mag ja unvernünftig sein, Schwesterchen, aber die Meinung, man könne mit deiner Wissenschaft und Technik ein Paradies auf Erden errichten, in dem die Krankheit, das Leid und der Tod abgeschafft sein wird, hat sich ja auch als ein großer Irrtum erwiesen. Immer da, wo Menschen versucht haben mit deiner Hilfe das Heil herzustellen, ist das gründlich schief gegangen. Die eigentlich Unvernünftige bist du!"
Moderne Wissenschaft und Technik, deren Errungenschaften drei Jahrhunderte hindurch als Beweis für die prinzipiell unbegrenzte Möglichkeit vernünftiger Weltgestaltung gefeiert wurden, sind seit einigen Jahren dem Verdacht der Inhumanität ausgesetzt. Das wachsende Unbehagen an der Moderne wurzelt in den allergischen Reaktionen auf die allumfassende „Rationalisierung", die immer mehr zu einer Verdinglichung der Alltagswelt, bis in die zwischenmenschlichen Beziehungen hinein, führt. Die Instrumente dieser totalen Ausbreitung der Vernunft sind der Markt, das Labor und die Verwaltung. Man nennt sie deshalb auch instrumentelle Vernunft. Durch den Zugriff der instrumentellen Vernunft bis in die Innenwelt und das Selbstverständnis der Menschen hinein, wird der Mensch immer mehr zur Ware, zum Objekt technischer Manipulationen und bürokratischer Überwachung.
Eine Absage an die Moderne ist das durchgängige Merkmal der neuen Wiederkehr religiöser Subkulturen in esoterischen Zirkeln oder fundamentalistischen religiösen Bewegungen. Die Anhänger dieser religiösen Subkulturen entziehen sich einer Welt, deren Komplexität bei ihnen Orientierungslosigkeit und Ohnmachtsgefühle erzeugt durch die Flucht in unvernünftige Anschauungen, besonders magischer Denkweisen und Methoden.
Auch der christliche Glaube übt Kritik an der instrumentellen Vernunft, geht aber dabei den Weg in eine solche irrational-religiöse Subkultur nicht. Der christliche Glaube reklamiert für sich die Position des „Logos" (vgl. Joh 1,1), d.h. einer „weiten" und „schöpferischen" Vernunft und bezieht seine argumentative Kraft aus dem Zusammentreffen der biblischen Botschaft mit dem Vernunftbegriff der griechischen Philosophie platonischer Tradition. Bei diesem Zusammentreffen wird die Vernunft nicht in Unvernunft verwandelt, sondern mit Vernunft zur Vernunft, also ihren eigenen Grundlagen, gerufen.
Vernunft ist also mehr als bloße Logik oder Ausbeutung und Manipulation der Natur und des Menschen mit Hilfe der Technik. Sie ist vielmehr jede verantwortliche Weise, mit der Welt umzugehen. Sie hat als Gegenstand die ganze weite Welt, einschließlich ihrer Transzendenz; umfasst somit nicht nur Technik, sondern auch Kreativität und Kunst. Sie ist vernehmend, vergleichend und auf den Austausch mit anderen angewiesen. Ihre höchste, vernünftige Fähigkeit besteht darin, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen und mit ihnen mitzufühlen. Die Universalität der Vernunft besteht nicht in allen gemeinsamen Vernunftaussagen, sondern in der gemeinsamen Fähigkeit, im Austausch miteinander mit Aufmerksamkeit auf die Erfahrung einzugehen und sich zu bemühen, sich vor Täuschungen zu bewahren und sich so nach und nach, durch „Versuch und Irrtum" der Wirklichkeit und Wahrheit anzunähern. Wer sich auf Vernunft beruft, beruft sich nicht auf bereits von allen geteilte Auffassungen, sondern ist bereit, seine Auffassung öffentlicher Prüfung zu stellen, mit Gründen zu überzeugen und auf Einwände zu antworten.
Dieser Prozess der Selbstaufklärung der Vernunft über ihre eigentliche „Weite", ist vor allem durch das historische Zusammentreffen der biblischen Botschaft mit der griechischen Philosophie angestoßen. Eine solche „Aufklärung" geschieht auch mit Rückwirkung auf den Glauben. Dort wo der Glaube sich nicht auf die Vernunft, auf Argumentation, auf Rechenschaftspflicht einlässt, dort tendieren religiöse Anschauungen dazu, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Die Religionsgeschichte belegt bis in unsere Tage, religiös motivierte Gewalt gedeiht bevorzugt auf dem Boden dumpfer Irrationalismen.
Glaube ist nach christlichem Verständnis das geschenkte Vertrauen in die Selbstmitteilung Gottes in sein in zwischenmenschlicher Sprache weitergesagten Wort. Der Inhalt dieser Botschaft ist die liebende Zuwendung zum Menschen, die weder mit Vernunft zu begründen, noch in einen „Vernunftrahmen" einzuordnen ist. Die Vernunft hat als Gegenstand das, was nicht Gott ist, nämlich die gesamte Welt und Wirklichkeit. Von dieser Welt kann die Vernunft erkennen, dass sie zwar ganz und gar von Gott unterscheidet, jedoch in ihrer Unterschiedenheit ganz und gar über sich hinaus weist. Diese restlose Verschiedenheit von ..., bei restloser Verwiesenheit über sich hinaus, ist der vernünftige und sachgemäße Begriff der Geschöpflichkeit, der Gott nicht zum Teil einer vernünftigen Begründungskette macht, aber auch nicht dualistisch von der Welt abspaltet. Der Welt als Schöpfung ist mit Vernunft ihre Geborgenheit in der Liebe Gottes noch nicht anzusehen. Zu dieser Erkenntnis und Gewissheit bedarf es des Glaubens.
Von solchen Überlegungen her unterscheiden sich Glaube und Vernunft nicht nur in der Erkenntnisweise, sondern auch im Gegenstand; sie sind aber auf diese Weise in eine „geschwisterliche" Beziehung gestellt. Denn im Glauben geht es darum, dass gerade die Welt, die der Vernunft zugänglich ist, zugleich die von Gott geliebte Welt ist. Weil aber letzteres nicht an der Welt ablesbar ist, wird es im Glauben erkannt und muss zur Welt dazugesagt werden. In diesem Sinn kommt der „Glaube vom Hören" (Röm 10,17).
Nichts kann geglaubt werden, was sich auf Vernunft zurückführen lässt. Ohne dieses erste Kriterium wäre der Glaube nicht Glaube. Die christliche Botschaft versteht Glauben als das Erfülltsein vom Heiligen Geist, als das nun im „Wort Gottes" zur Welt dazugesagte (=offenbare) Aufgenommensein in die Liebe, die nach der christlichen Botschaft in Gott von Ewigkeit her zwischen dem Vater und dem Sohn besteht und als Heiliger Geist präsent wird. Stattdessen etwas zu glauben, dessen Wahrheit oder Unwahrheit man auch mit bloßer Vernunft erkennen könnte, wäre Aberglaube. So kann etwa die astronomische Fragestellung, ob sich die Erde um die Sonne oder die Sonne um die Erde dreht, nicht mit dem Glauben entschieden werden.
Die Vernunft hat ihre eigenen Regeln Es kann jedoch nichts geglaubt werden, was diesen Regeln widerspricht. Das meint der Gebrauch der autonomen Vernunft und ist zu unterscheiden vom autonomen Gebrauch der Vernunft, also dem Einsatz der Vernunft nach eigenem Gutdünken. Ohne dieses zweite Kriterium könnte der christliche Glaube nicht vor der Vernunft verantwortet werden. Vernunfteinwände gegen den Glauben müssen sich auf dem Feld der Vernunft durch Argumente der Vernunft beantworten lassen. Glaube und Vernunft gehören durch diese beiden Kriterien „unvermischt", jedoch auch „ungetrennt" zusammen. Sie unterscheiden sich und beziehen sich aufeinander und können auf diese Weise für das gegenseitige Verstehen der Religionen und Kulturen überhaupt erst hilfreich sein.
Autor(en): Eckhard Türk