Oder sollte man besser fragen: Wann ist eine Erfahrung eine religiöse?
Wenn Jesus einem Menschen erscheint und diesem energisch rät, vom Alkohol zu lassen und sein Leben zu ändern? Oder wenn der Eingangschoral der Matthäus-Passion uns erschaudern lässt? Oder muss es mindestens ein „Großer Gott wir loben dich“ bei vollem Geläut zum Abschluss der Fronleichnamsprozession sein? Ist es der erste Schrei eines neugeborenen Menschenkindes? Oder ist es die Todeserfahrung im Familienkreis? Oder aber die Begegnung mit einem Menschen, der im Pflegeheim die Liebe zum Nächsten ohne viel Aufhebens täglich lebt?
Es wird rasch deutlich: Welche Erfahrungen Menschen als religiöse Erfahrungen einordnen, hängt zutiefst mit dem je eigenen, subjektiven Empfinden und Erleben zusammen.
Religiöse Erfahrung macht ein Mensch mit seinem individuellen Wesen und seiner spezifischen Biografie in einer bestimmten Situation seines Lebens. Und dennoch ist allen beschriebenen Erfahrungen etwas gemeinsam: In ihnen werden die Grenzen des Alltäglichen durchbrochen. Alle geschilderten Erfahrungen sind „disclosures“, Erschließungssituationen, in denen für einen Moment Größe und Tiefe von Welt und Mensch aufleuchten.
Interpretieren Menschen dieses Widerfahrnis des Außergewöhnlichen im Gewöhnlichen mit Hilfe religiöser Anschauungsformen und Kategorien, sprechen sie von religiöser Erfahrung. Die Religionswissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von Kontrasterlebnissen, in denen für einen Augenblick der Gegensatz von Ordentlichem und Außerordentlichem, von Profanem und Sakralem, von Säkularem und Heiligem deutlich wird.
Je nach kulturellem Kontext werden diese religiöse Erfahrungen mit unterschiedlicher Intensität erlebt: Man unterscheidet z. B. zwischen Transzendenzerlebnissen (transcendere = lat. „überschreiten“) in spirituellen oder mystischen Momenten, charismatischem Ergriffensein durch religiöse Mächte und Kräfte und absoluter Ekstase (ekstasein = griechisch „aus-sich-heraustreten“), wie sie Derwische, Medizinmänner und Schamanen durch bestimmte Rituale herbeiführen können.
Nach Peter Biehl (Anm.1) weisen aber alle Formen und Stufen der Begegnung mit dem Außerordentlichen in der Regel die gleichen charakteristischer Merkmale auf:
1. Die Grenzerfahrung: Die Begegnung vollzieht sich in Momenten großer existentieller Dichte, also wenn wir Freude und Glück, das Schöne und Erhabene, aber auch Krisen, Leid und Tod erfahren.
2. Der Erschließungscharakter: Die Begegnung beleuchtet unsere Wirklichkeit neu und lässt das das Leben „in einem anderen Licht“ erscheinen.
3. Der Widerfahrnischarakter: Die Begegnung mit dem Außerordentlichen ist unverfügbar, sie ist der menschlichen Planung und Berechung entzogen. Wir können uns auf sie vorbereiten, sie aber nicht herbeiführen.
4. Die chronologische Struktur: Die Begegnung hat eine in die Vergangenheit verweisende Dimension und zwar in dem Sinne, dass solche Erfahrungen unser Erlebtes und Erlittenes in einen neuen, oft Sinn gebenden Zusammenhang stellen. Und sie hat eine zukunftweisende Dimension in dem Sinne, dass wir durch die Begegnung Sicherheit, Inspiration und Mut für künftige Lebensaufgaben finden können.
5. Der religiöse Interpretationsrahmen: Die Begegnung bedarf der Reflexion und Deutung in einen Bezugssystem, durch das die Erfahrung symbolisch gedeutet und so als religiöse ausgelegt werden kann. Insofern bedarf es religiöser Gruppen und Gemeinschaften, die mit ihren spezifischen Deutungsmustern die besonderen, außergewöhnlichen Erfahrung eines einzelnen Gruppenmitglieds als eine religiöse bezeichnen und ausweisen.
Zur Veranschaulichung ein Beispiel aus der Bibel: In Kapitel 9 der Apostelgeschichte wird berichtet, wie der Pharisäer Saulus eine intensive religiöse Erfahrung macht: Diese Erfahrung ist so mächtig, dass Saulus drei Tage nicht mehr sehen kann, nicht mehr isst und nicht mehr trinkt. Schließlich gelingt es ihm mit Hilfe eines Christen namens Hananias seine Erlebnisse zu deuten und wieder ins Leben zurückzukehren. Er nennt sich von nun an Paulus. – Unabhängig von der Frage, in wieweit diese Schilderungen des Lukas als Verfassers der Apostelgeschichte den historischen Erfahrungen des Saulus entsprechen (vgl. Paulus selbst in 1 Kor 15, 8-10 und Gal 1, 15f. ) können an dieser Überlieferung die Strukturmerkmale religiöser Erfahrung deutlich gemacht werden:
In der Krise der Auseinandersetzung mit der Bewegung der Christen
(1. Grenzerfahrung) erlebt Saulus eine außerordentliche Begegnung, welche die Anhänger Jesu und ihn als deren Verfolger in einem neuen Licht erscheinen lassen (2. Erschließungscharakter). Diese Begegnung trifft ihn unerwartet und unvorbereitet (3. Unverfügbarkeit). Durch sie bekommt seine Vergangenheit als gesetzestreuer Pharisäer eine neue Bedeutung, ebenso wie seine Zukunft, die er von nun an als Apostel Paulus gestalten will
(4. Chronologische Struktur). Die eigentliche religiöse Bedeutung seiner Widerfahrnis wird ihm erst klar, als ein Mitglied der Christengemeinde – quasi als Repräsentant der relevanten Auslegungsgemeinschaft – ihm hilft zu verstehen, was eigentlich geschehen ist und wie dieses verstanden werden kann (5. Interpretationsrahmen). Was von einem Mediziner oder Neurophysiologen als klassische Symptome eines heftigen Epilepsieanfalls gedeutet werden könnte, bekommt nun eine religiöse Bedeutung – hier im Sinne einer Erscheinung des Heiligen – zugewiesen.
Wir können uns beruhigen: Nicht immer müssen religiöse Erfahrungen so spektakulär verlaufen wie beim Pharisäer Saulus, der durch sie zum Apostel Paulus wurde. So scheinen zum Beispiel das „Turmerlebnis“ des Martin Luther oder die „sizilianische Erfahrung“ von John Henry Newman wesentlich undramatischer verlaufen zu sein. Allen religiösen Erfahrungen aber liegt die gleiche phänomenologische Struktur zugrunde. Denn auch die Begegnung mit dem Heiligen in einer liturgischen Feier, in einer außerordentlichen Naturerfahrung oder in einem exemplarischen Menschen kann krisenhaft, erhellend, unverfügbar, zukunftsweisend und religiös zeichenhaft erfahren werden.
Anm.1 vgl. Peter Biehl, Art. Erfahrung, in: Lexikon der Religionspädagogik, hrsg. V. N. Mette und F. Rickers, Neu-kirchen-Vluyn 2001, Bd. I, 421-426.
Autor(en): Clauß Peter Sajak