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„Eine Frage der Gerechtigkeit“

Gegen das Vergessen
Datum:
20. August 2025
Von:
Anja Weiffen

Interview im Kirchenmagazin „Glaube und Leben“

"Was meint der Begriff Erinnerungskultur innerhalb der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt?" oder "Was legen Sie betroffenen Gemeinden besonders ans Herz?" fragt Anja Weiffen die Aufarbeitungsbeauftragte des Bistums Mainz, Anke Fery. Das Bistum Mainz hat eine Handreichung zur Erinnerungskultur erarbeitet: "Gegen das Vergessen: Erinnerungskultur"

Anke Fery

Was meint der Begriff Erinnerungskultur innerhalb der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt?

Wir kennen den Begriff Erinnerungskultur hauptsächlich im Zusammenhang mit Fragen zum Umgang mit Schuld und Verantwortung aus der Zeit des Nationalsozialismus. Der Begriff bezieht sich auf die Art und Weise, wie Gesellschaften wichtige Ereignisse, Persönlichkeiten oder historische Entwicklungen bewahren und würdigen.

Uns ist es wichtig, unterschiedliche Formen gegen das Vergessen zu finden. Das gilt auch im Bereich der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wir mit dem heutigen Wissen und den Erinnerungen umgehen und wie wir sie nutzen können, um positive Veränderungen herbeizuführen. Erinnerungskultur ist nicht nur Teil der Aufarbeitung, sondern ist immer auch Prävention gegen sexualisierte Gewalt, denn sie fördert Bildung und Aufklärung. Im Kontext der kirchlichen Erinnerungskultur geht es auch darum, Formen zu finden, das Geschehene vor Gott zu bringen.

Warum braucht es eine Broschüre zu dem Thema?

Wer sich mit Missbrauchstaten befasst, muss zunächst viele Emotionen und Spannungen aushalten. Es ist etwas völlig anderes, ob aus einer medialen oder
wissenschaftlichen Distanz über die Missbrauchsfälle in der Kirche gesprochen wird oder ob konkrete Missbrauchstaten im eigenen kirchlichen Umfeld geschehen sind. Das führt nicht selten zu einer emotionalen Überforderung bis hin zu einem hoch eskalierenden Konfliktfeld vor Ort.

Die Broschüre kann bei der Auseinandersetzung insofern helfen, als sie einen ersten strukturierten Zugang zu diesem Thema ermöglicht. Sie soll Anregungen, Denkanstöße, Leitfragen und Praxisbeispiele zur Gestaltung einer Erinnerungskultur sowie Unterstützungsangebote vor Ort geben. Sie gibt dabei nicht den konkreten oder gar einzig richtigen Weg zum Thema Erinnerungskultur vor, sondern zeigt auf, wie eine Lösung in einem gemeinsamen Prozess gefunden werden kann.

Was legen Sie betroffenen Gemeinden besonders ans Herz?

Ich erlebe häufig eine große Unsicherheit. Es sind in der Vergangenheit viele Fehler gemacht worden, man möchte jetzt auf keinen Fall neue Fehler machen. Dazu kommt, dass unsere Gemeinden vor vielen weiteren aktuellen Herausforderungen stehen und dann fragen: Was sollen wir denn noch alles in Angriff nehmen?  Das führt dazu, dass man das Thema lieber wegdrückt. Jedoch: Worüber man nicht spricht, das ist deshalb nicht weg. Ich verstehe die Überlastung der Gemeinden sehr gut und weiß, dass diese Reaktion nichts mit Gleichgültigkeit zu tun hat. Wir versuchen an dieser Stelle immer wieder bewusst zu machen, dass durch dieses „Wegdrücken“ Täter über lange Zeit diese Verbrechen überhaupt verüben konnten. Es gehörte praktisch mit zu ihrer Strategie. Wir reden hier nicht über ein Unglück, das leider passiert ist, sondern über gravierendes Unrecht und Leid, das Täter Kindern und Jugendlichen zugefügt haben. Und dem müssen wir etwas entgegensetzen, indem wir uns auseinandersetzen, aufarbeiten und vor allem anerkennen, dass die Verbrechen von sexualisierter Gewalt ein Unrecht waren, für das wir heute und in Zukunft als Kirche Verantwortung übernehmen müssen. Niemand muss beim Thema „Sexualisierte Gewalt“ Experte sein, um eine Erinnerungskultur zu entwickeln. Es braucht an erster Stelle den Mut, einen ehrlichen Blick auf das Geschehene zu richten und sich damit auseinanderzusetzen. Ich rate Gemeinden, die sich hier auf den Weg machen, dass sie sich hierzu gerne auch Unterstützung durch uns oder aber auch durch die Unabhängige Aufarbeitungskommission sowie den Betroffenenbeirat einholen können.

 

Zur Sache

„Gegen das Vergessen: Eine Handreichung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt“, herausgegeben vom Bistum Mainz, mit gemalten Bildern von Elisabeth Eisenhauer, einer Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Die Broschüre ist herunterladbar auf:
bistummainz.de/gegen-sexualisierte-gewalt oder
anzufordern bei: kontakt@bistum-mainz.de