Zeitzeugenbericht

Von Bernhard Grünewald, aus: 75. Jahre St. Elisabeth Darmstadt

Der 12. Dezember 1944

Bis zu dem Luftangriff am 23./24. September 1943 blieb unsere Kirche verschont. Bei diesem Angriff wurden die Fenster der Kirche stark zerstört. Im Dachstuhl schlugen Brandbomben ein und blieben auf dem Gewölbe liegen. Alle Bomben zündeten und brannten aus — der Dachstuhl fing kein Feuer.

Das Innere der Kirche war durch die großen, offenen Fenster der Witterung ausgesetzt. Nach jedem Regen wurde das Wasser aus der Kirche gekehrt.

In der folgenden Zeit wurden die Gottesdienste in der Marienkapelle sowie in der Kapelle der Schwestern im 2. Stock in der Emilstraße 21 gehalten. Gedrängte Verhältnisse, manchmal standen die Leute bis ins Treppenhaus.

Dann wurden die Fenster mit Hilfe bereitwilliger Firmen notdürftig mit Hartfaserplatten verkleidet. Ab Sonntag, dem 19. Dezember 1943 wurden wieder alle Gottesdienste in der Kirche gehalten. Es war kalt — kälter als heute — aber wir hatten wieder unser Gotteshaus.

Bei dem schwersten Luftangriff auf Darmstadt am 11./12. September 1944 flogen zwar keine Scheiben, dafür aber die Hartfaserplatten aus den Fensterrahmen der Kirche. Wieder lagen Brandbomben im Gewölbe. Und wieder entstand kein Brand.

Erneuter Umzug ins Schwesternhaus im 2. Stock und dann in den Kindergarten im Parterre. Es war sehr eng, aber warm. Es musste einfach gehen! Bei Regen in der Kirche Wasser kehren. Alles wie im Jahr zuvor.

Anfang Dezember 1944 holten wir in Arheilgen mit einem viel zu kleinen Pferdefuhrwerk in einer abenteuerlichen Fahrt Leitergerüste. Die zerstörten Fenster sollten nach und nach eingerüstet und verkleidet werden.

Am 12. Dezember 1944 — einem Dienstag — wollten wir mit dem Gerüstbau beginnen. Wir — das waren Kaplan Ulrich Schäfer S.J., Herr Adam (ein alter Fuhrmann, der schon das Bauholz für die Kirche in den Jahren 1903-1905 gefahren hatte) und ich, der Bernhard, knapp 16 Jahre alt.

In den Tagen zuvor hatten wir Ruhe vor Fliegern. Nur der damals übliche Vormittagsalarm. Das störte aber kaum, man konnte notfalls die Flugzeuge rechtzeitig hören oder auch sehen. Zeit zum Spurt in den Keller war dann immer noch. Mit einem Angriff rechneten wir nicht mehr, da ja fast alles in Darmstadt zerstört war.

Der 12. Dezember begann geruhsam mit der Hl. Messe um 7:00 Uhr und anschließendem Kaffeetrinken bei den Schwestern. Doch es wurde ein langer und harter Tag.

Zerstörter Altarraum von St. Eilisabeth 1945 (c) St. Elisabeht

Kurz nach 8:00 Uhr fingen wir mit der Arbeit an. Ein Gerüst bauen? Aber wie? Der einzige „Fachmann“ war Herr Adam. Er stand auf den Stufen des Hochaltars und dirigierte den Kaplan und mich. — Für den Anfang suchten wir uns die leichteste Stelle aus. Im Chorraum, rechts an der Sakristeitür, wo in etwa 6 m Höhe der Balkon des Oratoriums ist. Bei etwas halsbrecherischer Arbeit kamen wir recht zügig voran. Um 10:50 Uhr gab es „‚Öffentliche Luftwarnung“. Das hieß, dass Flugzeuge in den weiteren Luftraum von Darmstadt eingeflogen waren. Unser Gerüst war schon fast am Kreuzgewölbe — also etwa 17 m hoch. Um 11.30 Uhr gab es Fliegeralarm. Wir ließen uns nicht stören und arbeiteten tapfer weiter.

Gegen 12:00 Uhr hörten wir lautes Motoren-Gebrumm. Da kam auch schon Frau Roos, die Hausdame von Pfr. Michel: „Schnell! Eilt Euch, man sieht die Flieger schon“. Wir vom Gerüst runter wie der geölte Blitz, durch die Sakristei in den Pfarrgarten. Dort sahen wir einen Verband von 24 Maschinen von Osten kommend, etwa 2000 m hoch. Rauchzeichen wurden gesetzt.

Ich wollte noch schnell durch den Garten nach Hause. Doch, oh Schreck, die Tür, die den Pflanzgarten der Schwestern vom Pfarrgarten abtrennte, war verschlossen. Also zurück ins Pfarrhaus. Ein Blick zu den Flugzeugen. Ich sah — im Sonnenschein glitzernd — die ersten Bomben fallen. Volle Deckung an der Kirchenmauer, dort wo heute der Eingang zur Taufkapelle ist. — Rumms, die erste Sendung, aber noch weiter weg. Bleiben wollte ich da nicht. Weiter ins Pfarrhaus. Die Glastür war zugefallen. Rumms, die nächste Sendung. Schnell kehrt und durch die Waschküche in den Luftschutzkeller im Pfarrhaus. Das war dort, wo heute der Kleiderkeller ist und der Pfarrer seinen Wein aufhebt.

Der zerstörte Hochaltar (c) St. Elisabeth

Im Keller waren Pfarrer Dr. Michel, Kaplan Schäfer, Frau Roos, Frau Werner vom Schloßgartenplatz Nr. 5, Frau und Herr Schmitt vom Schloßgartenplatz Nr. 3 und Herr Adam. Alles lauschte auf die Geräusche, das Dröhnen der Flugzeuge, das Heulen und Detonieren der Bomben. Es wurde gebetet. Wir knieten oder lagen halb auf dem Boden. Links von mir Pfr. Michel, rechts von mir Herr Adam. Immer, wenn das Heulen der fallenden Bomben stärker wurde, wollten beide hoch. Ich hatte beide fest am Rockkragen und sie wieder runter auf den Boden gezogen. Gelernt hatten wir, bei Sprengbomben uns zusammenzukauern, zu entspannen, ruhig zu atmen.

Pfarrer Michel gab uns die Generalabsolution, der Kaplan dann dem Pfarrer. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Mein Gedanke war, jetzt hast du 4 Wochen Beichte gespart.

Das alles spielte sich in wenigen Minuten ab. Zum Lesen braucht man jetzt mehr Zeit, als das Ganze damals dauerte.

Plötzlich war dann ein unheimliches Heulen und ein fürchterlicher Krach. Es schien alles einzustürzen. Staub, Dreck, knisterndes Gebälk, das Donnern zusammenfallender Mauern, die Kellertür flog mit lautem Knall auf. — Und dann eine unheimliche Stille. Sekunden? Minuten? Knistern im Haus. Es roch nach Feuer. „Es brennt, alles raus“. „Hierbleiben, es fallen noch Bomben.“ „Nein, raus und löschen“. „Nur nicht im Keller verbrennen.“ Der Kaplan und ich sausten nach oben.

Zerstörte Kirche (c) St. Elisabeth

Im Wohnzimmer — dort ist heute das Pfarrbüro — brannte es. Stab-Brandbombe! Halb abgebrannt. Bombe, Stühle und Tisch nichts wie raus durch die Fenster. Wo war Wasser? Wir nahmen die volle Kaffeekanne, schütteten das Kartoffelwasser ab, leerten das Wasserschiff im Küchenherd. Bis Frau Roos kam und uns einen großen Einmachtopf voll Wasser zeigte. Er stand unmittelbar vor uns, wir sind fast darübergefallen.

Das Feuer war gelöscht. Ich wollte nach Hause. „Nein, Du bleibst hier, es kracht noch“. Ich rannte trotzdem los. An der Kirche entlang über Balken, Bretter, Schiefer, Steine, Glas. Dazwischen Brandbomben mit ihrem fahlen, rauchigen Feuerschein, Mitten auf dem Schloßgartenplatz ein großer Bombentrichter. Wieder das Heulen der fallenden Bomben. Hinein in den Trichter. Von dort sah ich, dass Rauch aus dem 2. Stock meines Elternhauses kam. Das machst Du allein, war mein Gedanke....

Es war gegen Abend, schon dunkel, unser Haus brannte noch in hellen Flammen. Ein Nachbar kam: „Guck doch, aus dem Turm vun de Kerch kumme Funke!“ „Du spinnst, des is unser Haus“ war meine Antwort. Doch nach einiger Zeit sahen wir es beide: Aus den Schall-Löchern des Turmes kamen Funken. Schnell rüber zum Pfarrhaus, da war auch schon der Kaplan. Im Eiltempo auf den Turm hoch, es waren noch 1 oder 2 Männer dabei.

Eine Brandbombe war genau in einen Knotenpunkt des Glockenstuhles eingeschlagen. Das Eichengebälk hatte kein Feuer gefangen, es schwelte nur. Sand und Wasser löschten die Glut schnell.

Erst als mein Elternhaus gelöscht war — etwa am Mittwoch um 22:00 Uhr — fand ich Zeit zum Schlaf. Und erst am Donnerstag wurde mir das Ausmaß des Schadens richtig bewusst.

Orgel und Dach sind zerstört (c) St. Elisabeth

Unsere Kirche war von 2 Sprengbomben getroffen, eine weitere war im Pfarrgarten niedergegangen und eine auf dem Schloßgartenplatz. Das Küsterhaus am Schloßgartenplatz Nr. 5 war wegradiert. — Die eine Bombe riss den rechten Pfeiler des Hauptportales weg und brachte die Empore samt der Orgel zum Einsturz. Die zweite Bombe fiel auf die Außenmauer in Höhe des Herz-Jesu-Chores und brachte etwa 2/3 des Dachstuhles zum Einsturz. Der Druck war so groß, dass lange Balken bis auf die Schloßgartenstraße geschleudert wurden. Der Dachreiter war in seiner ganzen Größe umgekippt und steckte mit der Spitze neben der Kirche am linken Seitenschiff in der Erde.

In der Kirche war das Gewölbe des Mittelschiffes eingestürzt und hatte alles zerschlagen. Der Kanzeldeckel war zerstört, die Kanzel war teilweise zusammengebrochen. Der Hochaltar war im unteren Teil mit den 2 Flügeln erhalten, das obere Mittelteil bestand nur noch aus Bruchstücken. Der Altartisch aus Kalksandstein war beschädigt, stand aber noch fest. Der Marienaltar war bis auf die obersten Ornamente in Ordnung. Die Kommunionbank war noch da. Die schmiedeeisernen Lampen hingen in den Bogen zu den Seitenschiffen. Das Gewölbe im rechten Seitenschiff, im südlichen Querschiff und über dem Marienaltar hatte standgehalten. Im linken Seitenschiff war fast nur noch das Sandsteingerippe des Gewölbes vorhanden. Der Dachstuhl stand noch über dem Chorraum und auf etwa 10-12 m Länge vom Giebel ausgerechnet. Die Sakristei war vollständig erhalten. — Im Pfarrhaus waren Türen und Fenster zerstört, Wände hatten Risse. Das Dach war stark beschädigt.

Von dem Triumpf-Kreuz, das 40 Jahre hoch über der Kommunionbank hing, war nur der zerstörte Korpus geblieben. Ihm fehlten Arme und Füße. Und so hängt der Korpus heute im Pfarrhaus.