Autor: Prof. Dr. mult. Klaus Vellguth
Klaus Vellguth, Dr. theol. habil. Dr. phil. Dr. rer. pol., ist Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät Trier und daneben Honorarprofessor für Missionswissenschaft an der VPU Vinzenz Pallotti University sowie Schriftleiter der pastoraltheologischen Fachzeitschriften „Diakonia“ und „Anzeiger für die Seelsorge“
Erstveröffentlichung: Vellguth, Klaus, Wenn Schöpfung und Schöpfer ineinander verschmelzen. Die Schöpfungsfenster der Kirche Sankt Elisabeth in Darmstadt, in: Anzeiger für die Seelsorge 134 (2025) 2, 38-40
Die im Jahr 2019 eingeweihten Schöpfungsfenster in der Sankt Elisabeth-Kirche in Darmstadt stellen ein eindrucksvolles Beispiel für die Verwirklichung des Spatial Turn dar, da sie den Sakralraum auf innovative Weise neu gestalten. In diesen Glasfenstern wird das Thema der Schöpfung künstlerisch verarbeitet, wobei die Architektur der Fenster nicht nur eine visuelle Darstellung der Schöpfung liefert, sondern die gesamte Wahrnehmung des Raumes verändert.
Die im Jahr 1905 geweihte Kirche Sankt Elisabeth liegt malerisch am Rand des Herrngartens, einer Parklandschaft in Darmstadt, die das grüne Herz der südhessischen Universitätsstadt bildet. Diese Lage – zahlreiche Passanten gehen an der Kirche vorbei – sowie ein achtzig Meter hoher Glockenturm, der sich eindrucksvoll in die Stadtsilhouette einfügt, tragen dazu bei, dass das Kirchengebäude sowohl in den urbanen Raum integriert als auch in die Natur eingebettet ist, was zu einer besonderen Wechselwirkung zwischen dem Sakralraum und der Umgebung beiträgt.
Nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg – die Kirche Sankt Elisabeth wurde bei den Luftangriffen im September 1944 massiv beschädigt – wurden zunächst provisorische Glasfenster eingesetzt, die sich jedoch weder als ästhetisch ansprechend noch als funktional erwiesen. Um die Kirchenfenster mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende neu zu gestalten, wurde ein studentischer Wettbewerb ausgeschrieben, an dem auch Studierende des Fachbereichs Gestaltung der Hochschule Darmstadt beteiligt waren. Der Auftraggeber, die Pfarrei Sankt Elisabeth, legte als Vorgaben des Wettbewerbs fest, dass für die zu erarbeitenden Entwürfe keine konkreten, illustrativen Darstellungen gewählt werden sollten. Stattdessen sollte eine abstrakte, zeitlose Gestaltung realisiert werden, die den christlichen Glauben durch Symbole, Farben und Formen reflektiert. Die Fenster sollten darüber hinaus den Altarraum vor Hitze schützen und einen Blendschutz bieten, ohne jedoch das Tageslicht zu blockieren. Auch war angedacht, dass das Gestaltungskonzept später auf andere Bereiche des Sakralraums übertragbar sein sollte. Im Jahr 2014 entschied sich die Gemeinde Sankt Elisabeth für den Entwurf von Markus Hau, einem 29-jährigen Studenten der TU Darmstadt. Hau, der Kommunikationsdesign studiert hat, hatte seine Entwürfe ursprünglich in einem mehrmonatigen Prozess am Küchentisch entwickelt, wobei er Scanner, bunte Tuschefarben, einen Blasebalg und Milch als Materialien verwendete.
Ein zentrales Anliegen des Künstlers war es, die verbindende und universale Sprache der Natur darzustellen, ohne klare Abgrenzungen zwischen den Farbübergängen zu ziehen. Die Entwürfe von Hau konzentrieren sich auf Flächen, in denen das Tageslicht ungehindert in den Kirchenraum eindringen kann. Die Schöpfung, das geisterfüllte Leben sowie die Dynamik, die in der Offenbarung und den biblischen Schriften zum Ausdruck kommen, werden im Entwurf des Darmstädter Künstlers thematisiert. Im Zentrum der Fenster steht die Darstellung der sich entwickelnden Schöpfung, die von göttlichem Geist erfüllt ist. Die faszinierende grafische Struktur, von der die farbigen Flächen durchzogen sind, veranschaulicht die göttliche Vielfalt und die Unendlichkeit der Schöpfung. Der besondere Reiz des Konzepts liegt darin, dass nicht in fragmentierter und mosaikartiger Weise ein Neben- oder Nacheinander von Schöpfungsepisoden dargestellt wird. Stattdessen wird die Botschaft des biblischen Schöpfungsglaubens ganzheitlich visualisiert: Eine dynamische Entwicklung, die vom Dunkel und Chaos der ursprünglichen Weltgestalt hin zur pfingstlich erleuchteten Vollendung weist. Dabei wird die Anfrage der Theodizee nicht ausgeblendet. In den Randbereichen sind dunklere Zonen integriert, die symbolisch für Leid und Schwermut stehen. „Das Lebendige in meinem Entwurf ist mir wichtig. In der Farbgebung der Kirchenfenster sind alle Farben vertreten - von warm bis kalt", erläuterte der Künstler seinen Entwurf.
Die Fenster sind in ihrer Farbgestaltung von einer bemerkenswerten Dynamik geprägt, wobei die Struktur des Bildaufbaus mit dem Blick der Betrachter korrespondiert: Die vertikale, nach oben gerichtete Farbentwicklung verstärkt die Vielfalt der gotischen Bau- und Formelemente des Chorraums, die sich in den lanzettartigen Fensterformen und weiteren architektonischen Details manifestieren. Diese Komposition spiegelt metaphorisch die Idee der Schöpfung wider, die von Dunkelheit zu Licht übergeht, vom Tohuwabohu zum Kosmos, von Chaos zu Ordnung, was sich im Gesamteindruck des Kunstwerks wiederspiegelt. Die Gesamtanlage der Kirchenfenster, die vom Chorraum auf das Kirchenschiff übergehen, weist dabei eine einladend-orientierende Parallelgestaltung auf. In den Fenstern auf der linken und rechten Seite sind jeweils ein blauer und ein roter Keil zu sehen, die den Blick des Betrachters behutsam auf die Apsis und das dortige, zentral angebrachte Kreuz lenken. Diese optische Fokussierung und Zentrierung führt somit hinein in die religiöse Symbolik und das zentrale Thema des Christentums.
Das Kunstwerk kann als ein den Schöpfer, den Betrachter und die Schöpfung ineinander amalgamisierendes Opus verstanden werden: Der Künstler wird zum „Schöpfer“, der durch die Gestaltung der Fenster einen kreativen Prozess initiiert. Doch auch der Betrachter übernimmt eine Schöpferrolle, da der Akt des Betrachtens die Fenster mit subjektiven Erfahrungen und Emotionen füllt. So entsteht eine Wechselwirkung zwischen Kunstwerk und Betrachter. Die Schöpfung wird zudem selbst zum Ko-Kreator, da das natürliche Licht der Sonne zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten die Fenster durchflutet und dabei stets neue, sich verändernde Lichteffekte erzeugt. Diese dynamischen Wechselwirkungen zwischen Licht, Raum und Wahrnehmung verstärken die Präsenz der Schöpfung als ein sich ständig veränderndes und lebendiges Element.
Der dynamische Prozess der unterschiedlichen Beleuchtung des Kirchenraums kann zugleich auch als eine Form der Verwandlung verstanden werden. Besonders in der Eucharistiefeier, in der das Staunen und die Dankbarkeit im Zentrum stehen, lässt sich eine Parallele zum Prozess der Wahrnehmung der Fenster erkennen. Die Verwandlung des Kirchenraums durch das Licht spiegelt die Idee wider, dass Gott kein statischer Gott ist, sondern dass die Schöpfung einem kontinuierlichen, dynamischen Wandel unterliegt.
Insgesamt dauerte es fünf Jahre, bis das Kunstprojekt realisiert war. In dieser Zeit war die Apsis der Kirche mit Tüchern verhängt, um den liturgischen Raum zu schützen. Als die Fenster schließlich eingesetzt waren und die Tücher im Jahr 2019 abgehangen werden konnten, trat bei vielen Betrachterinnen und Betrachtern ein "Christo-Effekt" ein: Der lange verhüllte Raum wurde neu entdeckt und strahlt eine transformative, fast mystische Wirkung aus. Die Fenster wurden im Rahmen eines feierlichen Gottesdienstes eingeweiht, an dem auch der Mainzer Bischof Kohlgraf teilnahm. In seiner Predigt stellte er Fragen zur menschlichen Existenz und zur Rolle des Menschen in der Schöpfung, die durch die Fenster symbolisch aufgegriffen werden: Wer sind wir? Wie wollen wir leben? Was bedeutet uns Freiheit und Verantwortung? Wie gliedern wir uns in die gesamte Schöpfung ein?
Die Schöpfungsfenster verleihen der Sankt Elisabeth Kirche in Darmstadt eine farbenfrohe und atmosphärisch eindrucksvolle Gestaltung. Abhängig von der Position der Sonne sowie den jeweiligen Wetterbedingungen, der Jahres- und Tageszeit wird der Kirchenraum in ein vielfältig changierendes Farbspektrum getaucht. Oft verweilen Passanten vor dem geöffneten Kirchenportal, wenn das Innere der Kirche in lebendigen Farben erstrahlt. Sie betreten den Raum, um eine Atempause einzulegen oder ein Gebet zu sprechen. Die Schöpfungsfenster laden die Betrachter zu einer kontemplativen Auseinandersetzung ein und fördern eine stille, meditative Wahrnehmung des sakralen Raumes. Sie vermeiden schrille Provokation und vertreten einen poetischen Kunstbegriff, der tiefere, transzendente Erfahrungen vermittelt.
Die neuen Fenster eröffnen einen Raum für pastorale Angebote, wie zum Beispiel die „offene Abendkirche“, die in einem neuartigen und ästhetisch-emotional berührenden Kontext stattfinden. Die Fenster können als Symbole der Transzendenz gelesen werden, die den Übergang des Alltäglichen in das Wunderbare und umgekehrt visualisieren. Das Licht, das in die Kirche strömt, verändert sich im Laufe des Tages, der Jahreszeiten und des Wetters und wirft unterschiedliche Licht- und Farbenspiele auf die Wände des Kirchenraums. Diese dynamische Wechselwirkung von Licht und Raum führt zu einer ständigen Transformation des Raumes, wodurch die Schöpfung selbst mit ihren ständig wechselnden Illuminationen als Mitschöpfer erlebt werden kann.
Die finanziellen Mittel für das Projekt – seinerzeit das größte Kirchenfensterprojekt in Deutschland – wurden vollständig durch die Gemeinde Sankt Elisabeth aufgebracht. Die Gesamtkosten beliefen sich auf 420.000 Euro.