Autor: Dominique Humm nach einem Interview mit Stephan Schmitt am 27. September 2024
Zur Person:
Stephan Schmitt wurde 1957 in Darmstadt geboren, ist gegenüber der St. Elisabethkirche aufgewachsen und hat Theologie in Mainz studiert. Er arbeitete seit 1989 als Pastoralassistent in der Schweiz, bekam 1992 die Institutio als Pastoralassistent im Bistum Basel und wirkte viele Jahre als Pastoralassistent und Gemeindeleiter. Er wurde 2010 in Zeihen/Aargau zum Priester geweiht und war bis zu seiner Pensionierung als Pfarrer im Bistum Basel tätig.
Im Krieg war eine Sprengbombe auf das Dach direkt über der Orgel gefallen und hat dieses zum Einsturz gebracht. Die vorherige Orgel und auch die Brüstung in der Mitte waren zerstört.
Nach dem Krieg wurde die Orgel durch die Firma Kemper (Lübeck) aufgebaut. Sie hatte drei Teile: Hauptwerk, Oberwerk und Pedal in einem linken und einem rechten Gehäuse. Später kam das Rückpositiv an der Brüstung dazu. Das Fenster in der Mitte war so komplett frei. Der Orgelspieltisch stand gewöhnlich rechts, aber man konnte ihn auch auf der ganzen Empore platzieren. Er hatte eine elektrische Verbindung mit der Orgel, und so stand er auch schon mal in der Mitte.
Die größte Kemper-Orgel im Bistum Mainz steht bis heute im Mainzer Dom. Es handelt sich dabei um ein elektro-pneumatisches System. Das heißt: der Spieltisch überträgt seine Impulse (Registerschalter oder Taste) mit einem Kamm aus kleinen Drähten, der mit einem stromführenden waagrechten Metallstab verbunden wird. Dann ging der Impuls via Kabel ins Orgelwerk. Unter den Windladen waren Ziegenlederbälgchen, die durch einen Stecher ein Ventil in der Windlade geöffnet haben. Ein Bälgchen öffnete die Registerkanzelle - also die Windzufuhr für eine gleiche Pfeifenreihe (ein Register). Ein zweites Bälgchen öffnete die Tonkanzelle - also die Luftzufuhr für die Pfeifenreihe eines Tones mehrerer Register.
Dieses System war sehr störanfällig, besonders, wenn im Winter geheizt worden ist. Die Wärme ist in der hohen Kirche nach oben gestiegen. Unten war es kalt, oben bei der Orgel auf der Empore war es heiß, und die Luft wurde total trocken. Was ist passiert? Die Ziegenlederbälgchen sind gerissen und konnten somit die Stecher nicht mehr nach oben drücken. Der Ton oder ein ganzes Register konnte nicht mehr bedient werden. Karl-Albert Gehrling war damals Hauptorganist. Er hatte immer Ziegenlederbälgchen vorrätig, ist dann in die Orgel gekrochen und hat die gerissenen Ziegenlederbälgchen durch Neue ersetzt.
Dazu kam noch eine zweite Schwierigkeit mit der Elektro-Pneumatik - neben dem Schwachpunkt der Ziegenlederbälgchen (der Pneumatik) die Elektrik. Denn die Drähte der Kämme verbogen sich, sodass der Kontakt zum Strom nicht mehr unterbrochen werden konnte. Dann war plötzlich ein Ton zu hören, der gar nicht mehr aufgehört hat. Alles in allem ein sehr problematisches System.
Stephan Schmitt erzählt: «Gegenüber der Elisabethkirche bin ich aufgewachsen und habe mit 15 Jahren Orgelunterricht bei Kantor Hermann Unger in der Stadtkirche genommen - an einer sehr guten Orgel. Geübt habe ich damals an der Orgel in St. Elisabeth. Bei meinem Orgellehrer habe ich mich immer beschwert über die Kemper-Orgel. Eines Tages kam Kantor Unger einmal mit nach St. Elisabeth, hat sich die Orgel angeschaut und gesagt: ’Was willst du eigentlich? Die Orgel hat drei Manuale, du kannst auf der Orgel alles spielen. Mehr brauchst du nicht.’
Pfarrer Eckstein, der mir erlaubt hatte, auf der Orgel in St. Elisabeth zu üben, wollte eines Tages, dass ich in Gottesdiensten spiele. Am Anfang habe ich werktags Orgel gespielt. Als ich 16 wurde, habe ich auch am Sonntag angefangen. Genauer gesagt zum ersten Mal am Weißen Sonntag, da sie keinen Organisten hatten und ich dann eingesprungen bin - sehr zum Unwohlsein meiner Familie, die unten saß.
Nach meinem Studium ich hatte keine Stelle als Pastoralreferent im Bistum Mainz bekommen) half mir Pfarrer Eckstein und stellte mich in St. Elisabeth ein - 50% für die Kirchenmusikerin Gabi Urbansky, die im Schwangerschaftsurlaub war, und 50% im Kindergarten Schwarzer Weg.
Mit der Zeit hatten sich die Probleme um die Orgel zugespitzt. Auch im Gottesdienst war es immer wieder störend zu hören. Das ging nicht mehr. Die Orgel zu reparieren rentierte sich nicht, das war viel zu teuer. Aufgrund dessen haben Verwaltungsrat und Pfarrgemeinderat entschieden, eine neue Orgel einzubauen. Das war natürlich teuer. Sparen und Sponsorensuche waren angesagt.
Als es soweit war, musste zunächst die alte Orgel rückgebaut werden. Für den Abbau wurde ein Orgelbauer beauftragt, dem der Zivildienstleistende von St. Elisabeth zur Hand ging. Die Orgel wurde fachgerecht demontiert, alles beschriftet und ordentlich hingelegt. Pfr. Eckstein hatte Kontakte nach Polen, wohin bereits öfters Spenden geschickt wurden. Dahin sollte auch die Orgel gehen. Da die Orgel aber nicht mehr viel Wert war, und die zeitaufwändige Demontage mit dem Orgelbauer zu teuer wurde, entschied Pfr. Eckstein: das machen wir jetzt anders. Er habe dem Orgelbauer abgesagt, und wir sollten die Orgel jetzt selbst auseinandernehmen. Also schritten wir zur Tat: erst wurden die Orgelpfeifen abgenommen und alles auf einem Stapel zusammengelegt. Dann haben wir die Windladen und das Gehäuse abgerissen. Übrig war am Schluss nur noch die Betonplatte, auf der die Orgel einmal stand. Auf unsere Nachfrage zum Vorgehen, meinte Pfarrer Eckstein: das macht nichts, die Polen sind handwerklich so begabt, die machen aus allem was. Vermutlich hatte er Recht, und vor allem die Orgelpfeifen waren ja noch brauchbar. Dann verpackten wir die Orgelteile in einen 7,5-Tonnen-LKW. Pfarrer Eckstein gab uns noch eine Tüte mit Bananen und Schokolade mit, die wir auch im LKW verstauten. Und so sind der Chef des Transportunternehmens und ich gegen Osten gefahren, nur mit der Adresse in Warschau in der Hand.
Als wir an der DDR-Grenze waren, sagten wir den Grenzbeamten, dass wir eine Kirchenorgel nach Warschau bringen. Die Grenzer haben in den Laderaum geschaut und wussten gar nicht, was das ist. Mit einer Kirchenorgel konnten sie nichts anfangen. Daher haben Sie uns in Beamtendeutsch gesagt: wir müssen uns erst mal sachkundig machen. Vier Stunden standen wir und warteten. Dann kamen die Grenzbeamten wieder, und da sie immer noch nicht wussten, was damit ist, haben sie die Ladefläche einfach versiegelt.
Dann durften wir die DDR durchqueren. Auf der Autobahn sagte der Fahrer plötzlich: Ich bin müde, jetzt musst du fahren. Ich hatte aber noch nie einen Lastwagen gefahren. So ein 7,5-Tonnen-LKW ist ja ganz schön groß. Gott sei Dank war es auf der Autobahn und man durfte nicht so schnell fahren (wegen der Schlaglöcher). Na ja, auf der Rückfahrt war das kein Problem mehr, und ich hatte genug Fahrerfahrung gesammelt. Ich fuhr dann sogar durch Breslau’s Innenstadt. Der Fahrer saß einfach daneben und schlief.
Zurück zur Hinfahrt: über Görlitz, Breslau ging es nach Warschau, Pfarrei Maria Matka. Ordensgeistliche haben die Kirche Maria Matka betreut. Als wir ankamen stand ein Gerüst an der Kirche, das einfach nur aus Holzlatten bestand - es sah abenteuerlich aus. Die Unterkirche, mit etwa 2000 Plätzen, war schon fertig und konnte benutzt werden - sehr eindrücklich.
Jetzt war die Ladefläche aber verplombt. Was macht man da? Also haben wir mit den Ordensgeistlichen gesprochen. Die sagten: wir haben einen Bauarbeiter (er war - glaube ich - sogar Vorarbeiter auf der Baustelle), dessen Onkel arbeitet im Zollamt. Gemeinsam mit dem Bauarbeiter fuhren wir zum Warschauer Zollamt, und er ging hinein. Als er zurückkam, sagte er, mein Onkel macht nichts, bevor er ein bisschen Schokolade und Bananen bekommt. Das wusste wohl Pfr. Eckstein. Aber was nun? Die Bananen und die Schokolade waren auf der Ladefläche hinten im LKW verplombt. Also haben wir ihm das gesagt. Da ging der Bauarbeiter hin, riss die Plombe weg, wir befüllten einen Sack mit Bananen und Schokolade, und er verschwand mit dem Sack wieder im Zollamt. Kurze Zeit später kam der Bauarbeiter mit einem Zettel heraus, auf dem stand, dass alles in Ordnung sei. Eigentlich waren die Bananen und die Schokolade für die armen Familien der Gemeinde gedacht. Doch was noch übrig war, nahmen die Ordensgeistlichen für sich.
Die Bauarbeiter luden die Orgel aus und lagerten sie im Keller in einem Gang.
Es wäre jetzt natürlich interessant, zu erfahren, ob die Orgel in Maria Matka wirklich eingebaut worden ist. Da die im Bau befindliche Oberkirche sehr groß war, mit etwa 6000 Plätzen, vermute ich, dass sie Teile von der Orgel zusammen mit Teilen von anderen Orgeln verbaut haben.»