Kommentar zur EVV Studie im Bistum Mainz

EVV Studie (c) Andrea Keber
EVV Studie
Datum:
Mo. 1. Mai 2023
Von:
Andrea Keber
 

Aachen, Münster, Berlin, Hildesheim, München, Köln, Essen, … und nun auch Mainz.

Am 3. März wurde die EVV-Studie (EVV steht für Erfahren – Verstehen – Vorsorgen) im Bistum Mainz vorgestellt. Die Studie umfasst Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung seit 1945 im Verantwortungsbereich des Bistums Mainz.
401 Menschen, deren Erlebnisse als hochplausibel eingestuft wurden, waren und sind betroffen – das Dunkelfeld ist ungleich höher.
401 Menschen zwischen 3 und 62 Jahren, die missbraucht wurden, denen Gewalt angetan wurde, denen nicht zugehört und nicht geglaubt wurde. Oft genug nicht von der Familie, nicht von Mitarbeitenden in der Pfarrgemeinde und schon gar nicht von den Verantwortlichen in der Mainzer Bistumsleitung unter den Bischöfen Stohr, Volk und Lehmann.
Menschen, deren Leben oft an dem zerbrochen ist, was sie erlebt und erfahren haben.
Natürlich war nicht zu erwarten, dass es in unserem Bistum anders zuging als in den anderen. Und doch hat mich das Ausmaß erschüttert – vielleicht, weil ich mich in diesem Bistum engagiere … vielleicht weil Kardinal Lehmann - zumindest nach außen - zu denjenigen Bischöfen gehörte, die für Reformen einstanden.
Ich habe bisher etwa 1/3 der Studie gelesen – mit Tränen in den Augen angesichts des Unfassbaren - und mich dabei immer wieder gefragt:
Wie konnten/können diejenigen, die weggeschaut haben, die vertuscht haben, sich selbst im Spiegel ansehen? (Ganz abgesehen natürlich von denjenigen, die Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen oft unvorstellbares Leid angetan haben und auch heute noch antun...).
Wie konnten/können sie sich "berufen" fühlen in der Nachfolge Jesus, wenn ihnen der Schutz und das Ansehen der Institution "Kirche" wichtiger war als das Leid von Menschen?

Die Mainzer Studie hat – mehr als die bisher veröffentlichten in den anderen Bistümern – die institutionelle Schuld und Verantwortung der Amtskirche deutlich gemacht. Überhöhung des Priesterbildes, männerbündische Netze, eine menschenfeindliche Sexualmoral, der Umgang mit Geheimnissen und vor allem das bestehende Machtsystem in der Kirche begünstigt(e) den sexuellen Missbrauch an sich – aber auch die Verharmlosung und Vertuschung der Verbrechen.
Der heutigen Bistumsleitung und dem Bistum insgesamt bescheinigte die Rechtsanwaltskanzlei Weber, die die Studie verfasst haben, eine hohe Kooperation und vollständige Transparenz beim Durchforsten und Sichten des Aktenmaterials.

Bischof Peter Kohlgraf drückte in seinen Statements nach der Veröffentlichung der EVV-Studie seine tiefe Betroffenheit aus und bekräftigte seinen unbedingten Willen zu Veränderungen. „Wir tun in diesem Bereich mit hohen Standards alles, um Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu verhindern. Es ist ein Kulturwandel, der seit einigen Jahren im Bistum Mainz stattfindet.“
Und weiter: „Eine solche Kirche will ich nicht mehr“, so seine Aussage bei der Pressekonferenz am 8. März.

Nur – wie soll eine andere Kirche entstehen, wenn bei der letzten Synodalversammlung erneut deutlich wurde, dass das Machtsystem der Bischöfe nicht durchbrochen werden kann ..., wenn Handlungstexte auf Antrag der Bischöfe so verändert und damit „weichgespült“ wurden, sodass sie die erforderliche 2/3 Mehrheit der Bischöfe erzielen. Der Erhalt ihrer Macht steht den Bischöfen über allem – und die ewige Angst vor Rom und dem Schreckgespenst der „Spaltung“. Vielleicht wäre es ein erster Schritt, wenn jeder Bischof in seinem Bistum, nicht nur über „Macht teilen“ redet, sondern dies auch umsetzt - und vor allem den Menschen vor Ort vertraut.

Wir – Maria 2.0 Nieder-Olm – haben einen Tag nach der Veröffentlichung der Studie zu einer Mahnwache vor dem Dom für die von sexualisierter Gewalt Betroffenen eingeladen. Für jede:n der 401 Betroffenen im Bistum Mainz und für die vielen, die niemand (mehr) kennt, haben wir einen Trommelschlag abgegeben, denn Worte zu finden, war fast unmöglich. Es war eine bedrückende Stimmung – von Umstehenden oder Vorbeigehenden hörten wir häufig: „Gott sei Dank bin ich schon lange aus dieser Institution ausgetreten“.