Liebe Gemeinde,
ich gestehe, dass ich mich mit einer Predigt heute schwergetan habe; - nicht, weil ich keine Lust zum Predigen habe oder weil mir im Dialog mit dem heutigen Evangelium nichts einfallen würde, sondern: Ich in der vergangenen Woche eine innerliche Achterbahn gefahren. Ein ‚Auf und Ab‘ von Zuspruch, Ermutigung und dann auch Wut, Enttäuschung und Traurigkeit.
Ich möchte sie in den nächsten Minuten in diese vergangene Woche mitnehmen:
Montag: Ich lese – wie ich es fast immer an Anfang der Woche tue – die Schrifttexte des folgenden Sonntags, lasse sie auf mich wirken, gehe Gedanken nach, schreibe mir schon mal den einen oder anderen Gedanken auf. Mich spricht unmittelbar an, dass Jesus bei seiner Predigt in Nazareth seine Aufgabe und Sendung klar und deutlich benennt: Er ist gekommen, damit er den Armen eine gute Nachricht bringe, den Gefangenen die Entlassung verkünde, den Blinden Licht bringe, … Es geht ihn um wirkliche Freiheit und Menschlichkeit.
Dienstag: Ich bereite mich auf den Sebastianusgottesdienst vor und freue mich darauf, den Nieder-Olmer-Feiertag zu begehen. In diesem Jahr dürfen wir – evangelische und katholische Kirchengemeinde – zwei Ikonen des Hl. Sebastianus segnen, die wir von der orthodoxen Akademie auf Kreta geschenkt bekommen haben. Mit der evangelischen Kollegin Pfarrerin Elke Stein werden die letzten Punkte unserer Predigt besprochen – und wir bestätigen uns gegenseitig darin, dass wir auf so viele Lebensbeispiele schauen dürfen, die – wie ein Sebastian, ein Dietrich Bonhoeffer, … – ihr Leben gelebt haben in den Koordinaten von Gottes- und Nächstenliebe. Damals wie heute sind solche Menschen immer wieder ein Vorbild und eine Inspiration für uns alle.
Mittwoch: Oh je, jetzt wird es eng: Der Pfarrbrief muss in dieser Woche fertig werden und ich habe noch einen Artikel zu schreiben, den ich etwas vor mich hergeschoben habe.
Jedes Jahr veröffentlichen wir in der ersten Ausgabe des Pfarrbriefes auch eine kleine Statistik zum vergangenen Jahr: Wieviel Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen …, lediglich nüchterne Zahlen in einer Tabelle. Eine Zahl beschäftigt mich schon etliche Tage und ich will sie nicht einfach - sozusagen kommentarlos - in der Tabelle stehen lassen: Die Zahl 101 nennt die Kirchen-austritte im vergangenen Jahr. Seitdem die Kirchenaustritte verzeichnet werden, hatten wir in unserer Gemeinde noch nie so eine hohe Austrittszahl. Ein Rekord, der traurig, ärgerlich und nachdenklich macht
Ich möchte weniger die Zahl kommentieren, sondern ich habe ganz konkrete Menschen vor Augen, die über eine oft längere Zeit mit sich gerungen und dann eine Entscheidung zum „Kirchenaustritt“ getroffen haben.
Ich sage das nicht so einfach dahin: Jeder Kirchenaustritt macht mich einerseits wirklich traurig, weil mit jedem Austritt ein ganz konkreter Mensch und Christ die Kirche verlässt. Ich habe noch immer die ausgedruckte Predigt von Christof May (Domkapitular im Bistum Limburg) auf meinem Schreibtisch liegen, der in einer beeindruckenden Predigt persönlich Stellung bezogen hat und sagt, dass „mit jedem Menschen, der die Kirche verlässt, auch Gott die Kirche verlässt.“ Diese Aussage stimmt und ich mache sie mir ganz zu eigen: Jeder Mensch ist immer und bleibt ein von Gottes Geist, von seiner Nähe und seiner Gegenwart beschenkter Mensch.
Andererseits macht mich ein Kirchenaustritt auch wütend gegenüber meiner eigenen Kirche, dass die Institution Kirche und das ihr anhaftende System nicht schneller und entsprechender auf dringend-notwendige Reformen eingeht und sie jetzt herbeiführt und wir nicht ständig verbal vertröstet werden.
Von Seiten der Pfarrgemeinde schreiben wir jede Person, die einen Kirchen-austritt erklärt hat, an. Ich lese Ihnen einen Abschnitt aus einer Mail vor, die ich vor wenigen Tagen als Antwort auf unser Schreiben erhalten habe: „… Und das ist auch die einzige Begründung meines Austritts. Es ist keineswegs verlorener Glaube an christliche Werte oder Unzufriedenheit mit der Gemeinde Nieder-Olm. Es ist ausschließlich ein Statement an das „Top Management“ der Kirche, dass die aktuelle Führungsarbeit bei gesellschaftskritischen Themen nicht mit meinen Werten vereinbar ist und ich deshalb die Unterstützung einstelle.“
Donnerstag: In München wird das Gutachten für den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising veröffentlicht. Ich bin sprachlos, kann es nicht fassen, dass sich gerade in den letzten 10 Jahren sich nichts Wesentliches verändert hat. Es geht immer noch zuerst um den Schutz der Institution Kirche und nicht um eine Umkehr, Perspektivänderung und das Wahrnehmen der Opfer und ihr Leid, um ein Mitfühlen und Mittragen. Wir schauen in einen „Abgrund“ und ich habe in der Zwischenzeit große Zweifel, ob hier die Kirchenleitungen alleine noch eine Aufarbeitung schaffen können.
Ich frage mich, warum ist das immer noch so, warum ändert sich hier zu wenig. Eine Antwortrichtung sehe ich im Umgang mit kirchlicher Macht
Der Vorsitzende der Bischofskonferenz Bischof Bätzing hat im vergangenen Jahr bei einer Pressekonferenz gesagt: „Es geht um Fragen der Macht und Gewaltenteilung, die Frage des Klerikalismus, …“. Andere Bischöfe sprechen offen von einer Krise des Bischofsamtes. Ich stimme voll zu: Bischöfe sind in unserer Kirche – dort, wo sie die Institution Kirche regieren - wie absolutistische Monarchen, die zugleich Gesetzgeber, Richter und Ausführer in einer Person sind; von Gewaltenteilung keine Spur, sondern Gewaltenanhäufung. Möchte Kirche Vertrauen zurückgewinnen, dann braucht es unbedingt eine Gewaltenteilung, welche die Ausübung von Macht auf unterschiedliche, strukturell voneinander getrennte Rollen verteilt und kontrolliert, um Willkür und Machtmissbrauch zu unterbinden und gegebenenfalls zu ahnden. Die Bischöfe hätten jetzt schon - auch kirchenrechtlich-konform - Möglichkeiten, ihre absolute Macht aufzuteilen und deutliche Schritte zu einer reformwilligen und zeitentsprechenden Kirche sichtbarer zu machen. Ich frage mich auch hier, warum ändert sich hier nichts Wahrnehmbares? Wahrscheinlich genau deshalb, weil es mit Macht zu tun hat.
Ja, ich erhoffe mir eine grundlegende Re-Form der Kirche, eine Rückkehr zum Wesentlichen, ein Verzicht alter und unmenschlicher Macht- und Leitungs-strukturen und eine Vertiefung unseres Glaubens. Das heißt auch: Weniger Worte und mehr Tat, echte und damit auch synodale/demokratische Beteiligung der Gläubigen und Respekt davor, was Menschen in unseren Pfarrgemeinden denken und wie sie handeln.
Macht hat für mich zuerst mit Ermächtigung zu tun, Menschen frei zu setzen, damit wir alle immer mehr zu dem werden, was wir sind: Von Gott gerufene Menschen, die menschlich reden und handeln, die auf Augenhöhe miteinander ringen und auch streiten, die versuchen das Evangelium entsprechender und aktueller zu leben.
Sonntag: Nach dieser Woche feiern wir jetzt gerade diesen Gottesdienst: Wir feiern Tod und Auferstehung Jesu, seine Zusage, dass sich das Leben durchsetzen wird. Er lädt uns zur Abkehr ein von allem Unmenschlichen und damit auch von allem Unchristlichen.
Seine Einladung ist, dass das Leben gelebt werden will – in die Höhe und Breite unseres Menscheins.– auch heute, wenn es sagt: Ich bin dazu gekommen, den Armen eine gute Nachricht zu bringen, den Gefangenen die Entlassung, den Blinden das Licht. Es geht um sein Evangelium, eine Lebensbotschaft, die wirklich frei und menschlich macht. Es geht auch um unsere Kirche, die mit den Menschen mitgeht.
Ich bin froh und dankbar, dass wir in unserer Gemeinde nicht aufhören, genau dies immer wieder zu versuchen und sichtbar machen.
Danke, dass sie mit mir durch diese vergangene Woche mitgegangen sind.