Zum Inhalt springen

Zwischen Schweiß, Staub und Staunen

Nachts an der Tanke in Brasilien.
Der Stempel ist drin. Wundervoll! Die Ausreise aus Venezuela war unproblematisch. Nun noch geschwind den Einreisestempel auf brasilianischer Seite abholen, dann geht es zum Bus. Mein Plan: Mit dem Bus die ganze Nacht durchfahren und am frühen Morgen ca. 800km südlicher in Presidente Figuereido aussteigen. Dort dann ein paar Tage in den Regenwald ein-& abtauchen. Es soll ein wahres Paradies der Wasserfälle sein und es gibt dort einen ganz bestimmten Vogel, der mir wahrlich den Kopf verdreht.
Datum:
9. Nov. 2025
Von:
Joshi Nichell
Ich versuche mein Anhalterglück mitten in der Nacht.

Zudem ist P. Figuereido nur noch ca. 110km entfernt von Manaus, wo wir dann in wenigen Tagen auf’s Boot Richtung Santarem / Belém steigen werden. Meine Reisebegleitung Mishiko bleibt noch ein paar Tage in Venezuela, während ich mich schonmal auf den Weg mache. Soweit zumindest der Plan. Klingt fast zu geschmeidig, um wahr zu sein. Am Busbahnhof in Pacareima (unmittelbar an der Grenze) will ich mir um 13:30 Uhr noch schnell das Ticket besorgen. Um 14 Uhr ist Abfahrt angesagt. Doch dann die Überraschung. „Wir haben kein Ticket mehr?“ „Wie bitte?“ Ich habe es verstanden, kann es aber nicht glauben. Ich drehe mich um. Was ist mit den anderen Bussen? Es fahren drei Busse in die Richtung. „Nein, alles ausgebucht. Ich hätte morgen noch was frei.“ „Hmmm…“ Mein Motorradtaxi, was mich zur Grenze und zum Busbahnhof brachte, ist schon wieder nach Venezuela zurückgekehrt. Oh weia, was mache ich? Ich hatte mich doch so sehr auf diesen besonderen Tropenort P. Figueiredo gefreut… Zurück kann ich auch nicht mehr. „Nach Boa Vista hat es noch freie Plätze“, fügt die Dame am Schalter hinzu. Boa Vista? Ganz ehrlich – ich habe gar keine Lust, dort zu bleiben! Ich möchte weiter. Und damit ist die Entscheidung gefallen. „In Ordnung, das nehme ich.“ Ich steige in den Bus nach Boa Vista. Die ersten drei Stunden Strecke ist geschafft. 17:30 Uhr. Im Sonnenuntergang kommen wir in Boa Vista an. Und nun? Wie geht es weiter? Als ich meinen Rucksack entgegen nehme, versuche ich mit dem Busfahrer zu reden, ob er mich nicht per Anhalter mitnehmen kann. (In Kolumbien hatte das schon geklappt.) Und tatsächlich, er sagt ja. Ich verstehe mit meinem gebrochenen Portugiesisch, ich solle doch dort im Wartebereich warten, der andere Busfahrer komme um 18:30 Uhr. Hoffnungsvoll, aber auch leicht ungläubig warte ich. Und warte. Und warte. Ein Bus nach dem anderen fährt. Es sind ca. 5 Busse, die losfahren und ich? Stehe im Busbahnhof hoffend noch mitgenommen zu werden.

Nach 1,5h gebe ich es auf. Ran an die Straße! Denke ich und schnappe meinen Rucksack. Es ist mittlerweile dunkel. Zum Trampen sind das nicht die besten Bedingungen, aber ich hab so sehr Lust, in P. Figuereido anzukommen. Also: los!

Zwei Stunden später, gegen 21 Uhr. Am Stadtrand von Boa Vista. Glückwunsch, Joshi! Immerhin, 8km in 2h per Anhalter sind geschafft. Wohlgemerkt, mit zwei Autos. Ich versuche stets, an Tankstellen anzukommen, denn dort gibt es Licht und Personal und eine Kameraüberwachung, sodass ich mich ziemlich sicher fühle und gegebenenfalls auch eine Nacht dort verbringen könnte… Gegebenenfalls... jaja… 

Eine Geduldsprobe. Die ganze Nacht versuche ich mein Tramperglück. Plötzlich ist es wieder Tag...

Die ganze Nacht über spreche ich jedes Einzelne Auto an, übe mich im Portugiesisch sprechen und meine Hoffnung aufrecht zu erhalten. Es ist eine wahre Geduldsprobe – doch eins weiß ich: irgendwann nimmt mich wer mit. Irgendwann… Als die Sterne verschwinden und der Himmel sich rot verfärbt, fang ich langsam, aber sicher an, ungeduldig zu werden. Und dann erscheint auch schon die Sonne. Halleluja! Ich bin mittlerweile über neun Stunden hier am Warten. Geschlafen habe ich mal eben 1,5h davon. Weil ich motiviert bin, weil ich ein Auto finden will. Ja, ihr Lieben, Trampen ist ein wahres Gedulds- und Motivationstraining! Erst recht, wenn ein LKW hält, und dann doch wieder weiterfährt, weil er nicht warten will, bis ich meinen Rucksack geholt habe. Oder ein anderes Auto plötzlich Angst bekommt, da noch ein zweiter Tramper auftauchte, und mir nicht einmal die Chance gibt, zu erklären, dass es zwar toll wäre, wenn sie uns beide mitnehmen könnten, wir jedoch unabhängig voneinander reisen. Tja, tatsächlich tauchte nachts um 23 Uhr noch ein zweiter Tramper auf, der in die gleiche Richtung will und mit der Bibel im Schoß einige Stunden auf der Tanke wohl ganz gut schlief.

Der tropische Regenwald - dicht und verschlungen gewachsen.

Um 8:23 ist es dann endlich soweit. Ein kleiner VW fährt auf die Tankstelle. Ich habe mich zwischen Einfahrt und Straße positioniert, sodass ich möglichst alle Autos ‚abfangen‘ kann. „Oi, uma pergunta!“, (Hallo, eine Frage!) rufe ich ihnen zu. Sie bringen das Auto zum Stehen. Und dann passiert, was passieren musste: Ich schaffe es, sie dazu zu bewegen, mir zu vertrauen und mich mitzunehmen. Welch‘ eine Freude!!! Wahnsinn! Nach ca. 11h auf der Tanke geht es los. Und es geht schnell los. Mein Fahrer rast wie ein Verrückter. Diese Straße quer durch den Amazonas ist voller Schlaglöcher und wer nicht genau weiß, wann es gilt zu bremsen, bringt sich schnell in tatsächliche Lebensgefahr. So auch unser Fahrer uns… Es ruckelt und springt – ich mache drei Kreuzzeichen. Gerade nochmal gut gegangen. Was für ein Verrückter… Er rast weiter. Sein Freund und ich legen sicherheitshalber mal den Gurt an. Das Gute an seiner Geschwindigkeit ist wenigstens die frühe Ankunft. Mein Traum war es, so schnell es geht anzukommen – noch am selben Tag möglichst. Und siehe da. Gegen 15:30 Uhr – nach 7h lebensmüder Autofahrt steige ich glücklich aus: Ich bin da! In: Presidente Figueiredo. Ca. 110km nördlich von Manaus. Mitten im tropischen Regenwald. Du steigst aus dem Auto und schwitzt. 36°C und eine Luftfeuchtigkeit, die so hoch ist, dass meine Kameralinse beschlägt, wenn ich den Plastikdeckel abnehme. Wild. Ich habe die Gelegenheit, ein paar Tage in diese wundervoll tropisch-feuchte Welt einzutauchen. 

Die Sonne funkelt durch's dichte Blätterdach hindurch.

Wasserfälle, schnarchende Frösche und orangene Vögel, die skurriler kaum aussehen könnten. Eine Wunderwelt, die es zu bestaunen gilt! Noch. Denn wieder einmal eine Nachricht, die wir vielleicht nicht hören wollen, die aber gehört werden will und uns aufrütteln darf: Nach aktuellem Stand geht die Klimaforschung davon aus, dass bei erreichten 3°C Klimaerwärmung (aktuell sind wir bei 1,5°C angekommen) die Menschen in den 10° nördlich und südlich des Äquators (also genau in dieser Region = Amazonien) nicht länger als drei Stunden täglich draußen verbringen können. Der menschliche Körper hält es einfach nicht aus. Noch 2014 ging die Klimaforschung davon aus, die 1,5°C etwa in 2041 zu erreichen. 2025 haben wir es bereits erreicht. Damit hat keiner gerechnet… Es geht alles schneller als erwartet. Ist das nicht grotesk? Ausgerechnet die „grüne Lunge der Welt“ wird lebensfeindlich? Für mich ein Paradoxem. In Presidente Figuereido frage ich bei Philipe, der kaum älter sein dürfte als ich und die Hostelrezeption betreut, nach. „Wie nimmst Du das Klima wahr?“ „Quente“ („Heiß“). Und jedes Jahr wird es spürbar wärmer.“ „Jedes Jahr?“, frage ich beängstigt nach. „Ja, jedes Jahr.“ Als ich ihm von der wissenschaftlichen Voraussicht berichte, verstummt er.

 

Zauberhafte, wahrlich bestaunenswerte Gestalten finden sich im biodiversesten Ökosystem der Erde.

Und noch einmal. Ich will hier nicht den Buhmann spielen. Ich will Dich, liebe Leser:in keinesfalls in depressive Stimmungen bewegen. Und auch überhaupt nicht in Angstzustände, die lähmen. Ganz im Gegenteil. Was ich will, ist: ein sanftes Aufrütteln. Bewusstsein schaffen. Denn das ist meines Erachtens die Grundlage, um anschließend gemeinsam und entschlossen, verantwortungsvoll zu handeln. Sei es im christlichen Sinne, zukünftig Klimaflüchtlinge aufzunehmen, den eigenen Konsum bewusster zu gestalten, für ein Miteinander zu beten. Ich rufe Dich auf, ganz bewusst dieser gigantischen Schöpfung ‚Danke zu sagen‘! Zu staunen, sich in der Schönheit einen Moment zu verlieren. Wir sind ein Teil dieser Schöpfung und wir haben die wundervolle Fähigkeit, sich klugen Verstandes zu bedienen. Und ich freue mich, wenn auch Du dabei sein willst. Wir dürfen leben und feiern, ohne uns zu verstecken. Und ganz nebenbei können wir uns langsam zu einem Leben hinbewegen, wofür die Enzyklika ‚Laudato si‘ plädiert und das indigene Gemeinschaften – wie ich es ein paar Wochen aktuell auf dem Amazonas erfahre – vorbildhaft leben.

Wilmo, 26,Indigener aus Ecuador auf dem Weg zur COP30, um für diese Erde zu kämpfen.

Wilmo, Indigener aus Ecuador, den ich mit 60 weiteren Indigenen auf dem Amazonasdampfer treffe, spricht vor allem von einer spirituellen Verbindung mit der Natur. „No usamos la naturaleza, convivimos con la naturaleza.“ Wir benutzen nicht die Natur, wir leben mit ihr. Für sie sind die Bäume, die Pflanzen und über alles das Wasser heilig. Wasserfälle sind für sie heilige Orte, mit denen sie sich rituell verbinden.

JOSL7936

Dankbar tauche ich in nun in P. Figuereido in den Wasserfall „Cachoeira de Neblina“ ein. Was für eine grandiose Dusche! Eine Rückenmassage feinster Art. Ein Geschenk. Und einfach irre, wie es sprudelt, wie es fließt. Welche Massen an Wasser dort hinunterbrausen. Ich sitze hinter dem Wasserfall, lass mich berieseln und schließe die Augen.

JOSL9189

Und als ich am nächsten Tag dem Balzen der Gallo-de-Serras – den „Berghühnern“ zuschauen darf, weiß ich wieder einmal: es ist es wert, sich für diesen Planeten einzusetzen.

Denn ja, was ist denn das bitte für eine wundervoll-wundersame Kreatur? Inmitten des Dickichts taucht eine orangene Gestalt auf. Farblich könnte es das Nationaltier Hollands sein. Bis zu acht Hähne versammeln sich und fangen an zu tanzen, rumzuflattern – kurz: die Weibchen zu beeindrucken. 

 

Das Weibchen schaut dem Balzgeschehen zu und lässt sich beeindrucken. So - wie ich. :-)

Doch sie beeindrucken nicht nur die Weibchen, sondern auch mich, der nun ganz alleine tief im Regenwald ihrem Spektakel zuschaut. Der sich nicht mal im Geringsten eine solche Gestalt vorstellen konnte. Ja, es ist vielleicht der sonderbarste Vogel, den ich je zu Gesicht bekommen hab. 

Welch Farbenzauber tief drin im Regenwald. Der Gallo-de-serra („Berghahn“)

Genährt von dieser tierisch-schönen Begegnung steige ich in meinen Lift nach Manaus. Dort erwartet uns ein ganz wundervolles Projekt, das aus indigener Inspiration erwachsen, von Adveniat unterstützt und ein wahrer Hoffnungsschimmer inmitten der Regenwaldmetropole ist. Mehr dazu, gegen Ende der COP30.

Denn morgen geht es schon los! Du willst auch während der COP kleine Beiträge unmittelbar erfahren? Folge meinem Instagram-Kanal und dem des Bistums und Du wirst über Neuigkeiten ganz aktuell informiert werden.