Die Glocken

„Die Glocken fliegen nach Rom" - kennen Sie diesen Ausspruch? Als Kind wurde er mir von meiner Oma immer wieder am Gründonnerstag gesagt, wenn nach dem Gloria der Abendmahlsmesse die Glocken der Kirche vestummten. Einem Jahrhunderte alten Brauch gemäß schweigen die Glocken auch heute noch aus Trauer um das Leiden und Sterben von Jesu bis zum Gloria der Osternacht. Weil die Glocken in dieser Zeit nicht erklingen, erzählt man sich noch heute, dass sie nach Rom fliegen, damit sie vom Papst gesegnet werden, um wieder neu zu klingen. Bis zum nächsten Jahr haben die Glocken dann viel zu tun. Erich Kästner hat dies in Reimform gebracht:

„Wenn im Turm die Glocken läuten,
kann das vielerlei bedeuten.
Erstens: dass ein Festtag ist.
Dann: dass du geboren bist.
Drittens: dass dich jemand liebt.
Viertens: dass es dich nicht mehr gibt.
Kurz und gut,
das Glockenläuten
hat nur wenig zu bedeuten."

Allerdings hat das Läuten der Glocken schon eine Bedeutung: sie laden uns zum Gottesdienst ein und rufen uns zur Kirche. In der Messfeier hören wir die Glocken während des Evangeliums und der Wandlung; sie machen die Daheimgebliebenen auf den Verlauf des Gottesdienstes aufmerksam. Die Glocken erklingen bei Taufe, Hochzeit und Erstkommunion und sind Ausdruck der Freude. Auch beim Jahreswechsel und an Festtagen ertönen sie. Sie läuten, wenn jemand aus der Gemeinde gestorben ist. Das tägliche Angelus-Läuten erinnert uns an das private Gebet in der Familie und am Arbeitsplatz.

Die Glocken sprechen ihre eigene Sprache; sie sind uralte Musikinstrumente. Schon über 4000 Jahre gibt es sie. Als Ursprungsland dürfen wir China vermuten. Glocken waren dort weit verbreitet, da ihrem Klang magische Kräfte zugeschrieben wurden. Diese wurden als Bindeglied zwischen Himmel und Erde angesehen. Eine gestimmte Glocke gab den Ton im gesamten Kaiserreich an. Es sollte eine einheitliche „Stimmung" im Lande herrschen. Auch im frühen Indien wurde die Glocke wegen ihres Klanges und ihrer Erscheinung verehrt. Für die Hindus symbolisierte sie den Ursprung allen Lebens. Im Buddhismus wurde die Glocke als die Königin aller Instrumente verehrt. Die Klänge aller bekannten Musikinstrumente vereinten sich nach buddhistischer Auffassung in der Glocke zu einem einzigen vollkommenen Klang. In Ägypten verwendete man sie seit dem achten Jahrhundert vor Christus bei religiösen Tempelriten; sie diente auch als Grabbeilage für verstorbene Kinder.

Im Neuen Testament schreibt der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief: „Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine lärmende Pauke." (wörtlich: Glöckchen)

Es sollte jedoch bis ins vierte Jahrhundert dauern, bis Glocken auch die Christen zum Gebet riefen. Die Wüstenväter in Ägypten waren die ersten, die die Glocke als Ruferin zum Gottesdienst gebrauchten. Nach Europa gelangte die Glocke durch Papst Sabinian (604-606). Dieser ordnete das Läuten einer Glocke zu den sieben täglichen Gebetszeiten an. Und kein geringerer als Karl der Große sorgte durch verschiedene Edikte für den Siegeszug der Glocke durch seinen Herrschaftsbereich.

Die Glocke ist ein uraltes sprechendes Zeichen. In der Geschichte des christlichen Abendlandes folgten die Menschen im täglichen Leben dem Rhythmus der Glocken; das Läuten teilte den Tag in die Zeiten zur Arbeit, zur Muße und zum Gebet ein.

Die Glocke inspierte die Menschen aber auch zu geistigen und kulturellen Leistungen: „Fest gemauert in der Erden, steht die Form aus Lehm gebrannt... „ - die Glocke von Friedrich Schiller ist wohl die bekannteste. Der französische Dichter Francois-René de Chateaubriand (1768-1848) schrieb wunderschöne Sätze über die Bedeutung der Glocken: „Weil wir in den Tempel Gottes treten sollten, so lasst uns zunächst von der Glocke reden, welche uns dahin ruft! Mir scheint der Umstand sehr wunderbar und bemerkenswert, dass die Kunst erfunden ward, durch einen Klöppelschlag in einer und derselben Minute tausend verschiedenen Herzen eine und dieselbe Empfindung zu wecken. Dass man also Wind und Wolken zwang, sich mit unseren Gedanken zu beladen."

Auch die Glocken unserer Viernheimer Kirchen sind sprechende Zeichen: sie verbinden Himmel und Erde miteinander und wollen den Klang der Gegenwart Gottes in unserem Herzen und in unserer Welt wachhalten.

Angela Eckart