Zum Inhalt springen

Beitrag im Magazin "Glaube und Leben":"Appelle helfen nicht"

Erstmals fand im Bistum Mainz für Haupt- und Ehrenamtliche ein Fachtag zum Thema „Gegen sexualisierte Gewalt“ statt. Dazu reiste aus Rom Pater Hans Zollner an, einer der weltweit führenden kirchlichen Kinderschutz-Experten.
Datum:
19. Juni 2024
Von:
Anja Weiffen

„Bitte wählen Sie behutsam die Worte und gehen Sie gut miteinander um.“ Mit diesem Wunsch holt Pater Hans Zollner das Thema Prävention auf den Boden der Tatsachen. Denn im Raum befinden sich auch Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Spätestens mit dem Hinweis auf den neuen Betroffenen-Beirat des Bistums Mainz wird dies deutlich. Vier seiner Mitglieder sind beim Fachtag vertreten, reden mit, sind ansprechbar. 

Mehr als 200 Haupt- und Ehrenamtliche aus dem ganzen Bistum sind zum Fachtag nach Mainz in den Erbacher Hof gekommen. Der Titel des Fachtags: „Gegen sexualisierte Gewalt. Von der Konzeption ins Leben. Perspektiven auf Prävention, Intervention und Aufarbeitung“. Konzentrierte Stille herrschte im Saal bei den Ausführungen des Jesuitenpaters Hans Zollner. Die Atmosphäre: ernst, offen, gespannt. Was hat uns ein Mann der Weltkirche zu sagen? Was können wir für unsere tägliche Arbeit mitnehmen?

Systeme erzeugen Mentalität

Seit mehr als 20 Jahren unterrichtet der aus Regensburg stammende Zollner an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. In Mainz stellt der Theologe und Psychologe die Perspektive von Betroffenen sexualisierter Gewalt gleich an den Anfang seines Beitrags. „Damals und auch heute hört keiner mich an.“ – „Ich habe mich so schmutzig und schuldig gefühlt.“ – „Dass die Verantwortung hin- und hergeschoben wird, macht mich wütend.“ Solche Sätze hat Zollner oft von Betroffenen gehört. 

Unterschiedliche Perspektiven entstünden nicht nur zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen, sondern auch durch unterschiedliche Sprachen und Kulturen in der Weltkirche. Schon allein der Duden kenne sechs Bedeutungen des Wortes Aufarbeitung, führt Zollner als Beispiel an: Von „Liegengebliebenes erledigen“ über „Etwas geistig verarbeiten“ bis „Alt und unansehnlich Gewordenes erneuern“ lauten die Definitionen. 

Der Präventionsexperte entfaltet auch die Bedeutung des Wortes „systemisch“: Da greifen nicht nur Ortskirche, Diözese und Weltkirche ineinander. Familie, Erziehung, Wirtschaft, Politik, Medien, Recht und Normen erzeugen das, was Mentalität heißt. Auf diesen Begriff zielt Zollner ab: Mentalitäten zu verändern, um letztlich in Kirche und Gesellschaft sexualisierte Gewalt zu verhindern.

„Tun, was jedem möglich ist“

Mentalitäten aber „werden nicht mit einem Federstrich verändert“, sagt Zollner. Gefordert seien alle. „Tun, was jedem möglich ist, damit Kirche und Gesellschaft ein sicherer Ort für Verwundbare werden“, so Zollners Maxime. Er betont: „Appelle helfen nicht.“ Stattdessen stünden für kirchliche Mitarbeitende Fragen an wie: In welchem der Systeme bin ich unterwegs? Wie definiere ich meine Mitverantwortung? Oder auch: Wo ist die Expertise von Betroffenen in Gremien willkommen? 

Zollner fordert: neu denken, neu sprechen, neu leben. Das betreffe Begriffe wie Sexualität, Sünde, Scham und Macht. Zudem gebe es diese Furcht vor Verletzlichkeit, vor echtem Mit-Leiden, Furcht vor dem Eingeständnis von Verbrechen. Er bezeichnet die Kirche als „das perfekte System des Abschiebens von Verantwortung“.

In der Diskussion im Plenum schildert ein Betroffener den Fall eines kirchlichen Mitarbeiters und Missbrauchstäters, der in verschiedene Bistümer versetzt wurde. Wäre es da, bei aller Komplexität, nicht ein Einfaches gewesen, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und nach dessen Vorgeschichte zu fragen? Pater Zollner antwortet, dass dies die beste und einfachste Lösung gewesen wäre. Die Gründe aber, warum dies nicht gemacht wurde, seien komplex gewesen, nimmt er an. Eine weitere Wortmeldung klingt radikal: Wiedergutmachung sei nicht möglich. Pater Zollner ist dennoch überzeugt: „Es gibt Betroffene, die das für möglich halten, unter ihren Bedingungen.“

Beim Fachtag bestand die Möglichkeit, an Workshops teilzunehmen. Zur Wahl standen sieben Themen darunter Erinnerungskultur, Kultur der Achtsamkeit, Nähe und professionelle Distanz sowie Machtmissbrauch. Auch Bischof Peter Kohlgraf war beim Fachtag dabei. Veranstalter waren die Bistumsakademie Erbacher Hof und das Bistum Mainz. 

Beim Fachtag „Gegen sexualisierte Gewalt“ im Erbacher Hof in Mainz nahmen folgende Mitglieder des Betroffenen-Beirats des Bistums Mainz teil: Horst Döbert, Prof. Lucia Scherzberg, Dr. Christoph Göttlicher, Harald Schweizer