© Eakrin | stock.adobe.com
7. März 2023
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In den vergangenen Tagen habe ich die tausend Seiten der Studie zum Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bistum Mainz seit 1945 gelesen, die Rechtsanwalt Ulrich Weber, Johannes Baumeister und ihr Team erstellt haben. Hauptsächliche Grundlage dieser Studie sind Gespräche mit Missbrauchsbetroffenen und Menschen, die etwas wissen und bereit waren, ihr Wissen mitzuteilen. Mehrfach waren die Schilderungen für mich als Christ und Mensch zutiefst erschreckend.
Nach der Lektüre ist mir zunächst eines besonders wichtig: Ich will heute eine andere Kirche gestalten. Diesen Wunsch nehme ich bei vielen Gläubigen ebenfalls wahr. Es gibt ein systemisches Versagen. Fehlende Verantwortungsübernahme hat Missbrauch begünstigt. Es fällt mir nicht immer leicht, für eine derartige Gestalt von Kirche, die keineswegs überwunden ist, Verantwortung zu übernehmen. Und dennoch will ich diese Verantwortung tragen. Denn ich glaube an die Kraft des Evangeliums, das die Kirche verkünden soll und immer auch verkündet hat. Das Auseinanderfallen von Botschaft und Lebensweise ist bis heute das Hauptproblem, das Jesus schon in seiner Botschaft deutlich beim Namen nennt. Manchmal höre ich jetzt das Argument, so seien einfach damals die Zeiten gewesen. Allerdings hätte ein ernst gemeinter Blick ins Evangelium genügt, um das eigene Verhalten in Frage zu stellen. Allein, dass man vertuschen wollte, zeigt, dass das Wissen um Unrecht vorhanden war, aber nicht angemessen gehandelt wurde. Ich will eine Kirche mitgestalten und für sie Verantwortung tragen, die Glauben, Bekenntnis und Leben in Übereinstimmung bringt. Die dies zumindest versucht.
Natürlich beschäftigt mich als Bischof von Mainz die Rolle meiner Vorgänger im Bischofsamt. Kardinal Hermann Volk erfreut sich immer noch großer Beliebtheit, noch mehr Kardinal Karl Lehmann. Menschen sprechen von ihm als „moralische Lichtgestalt“ und erfahren jetzt wie ich, dass es auch eine andere Seite seiner Amtsführung gab, besonders im Hinblick auf den Umgang mit vom Missbrauch Betroffenen.
Kardinal Lehmann hat mich zum Bischof geweiht. Das war für mich eine Auszeichnung und ein Ausdruck der Kontinuität zwischen ihm und mir. Ich habe Berichte in der Studie gelesen, die diesen Gedanken für mich jetzt schwierig machen. Er verkörpert im Umgang mit Missbrauchsbetroffenen eine Kirche, die abgrenzt und sich ihrer Verantwortung nicht stellt. Er bezweifelt wiederholt die systemische Verantwortung der Kirche und des Bistums für Missbrauchstaten. Rechtsanwalt Weber stellt gerade dies heraus. Noch nach 2010 spricht er sich offen gegen die damals bereits beschlossenen Maßnahmen der Deutschen Bischofskonferenz aus. Ich erschrecke, wenn ich davon lese, dass ein Bischof, der immer wieder ein menschenfreundliches Gesicht gezeigt hat, in der Begegnung mit Betroffenen sexualisierter Gewalt eine unglaubliche Härte und Abweisung zeigt.
Ich lese jedoch nicht nur vom Versagen der Verantwortlichen des Bistums. Gemeinden haben ihre Priester auf ein Podest gehoben, das sie unangreifbar macht. Es konnte nicht geschehen sein, was nicht sein durfte. Das Verhalten von Familien ist teilweise unvorstellbar. Den eigenen Kindern wurde teils nicht geglaubt, weil man die Autorität des Priesters nicht antasten wollte. Bestimmte Richtungen der Theologie haben ein Priesterbild gefördert, das den „heiligen Mann“ jeder Kritik enthob. Priester spielten in der Gesellschaft eine Rolle, die sie zu unangreifbaren Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens machte.
Eine solche Kirche will ich nicht mehr. Viele Menschen ebenfalls nicht. Ich habe schreckliche Tatschilderungen gelesen. Solche Taten sind für mich im Grunde im Namen des Evangeliums unvorstellbar. Und doch sind sie geschehen. Ich finde es geradezu unaussprechlich widerwärtig, wenn derartige Verbrechen von Tätern religiös begründet werden. Damit wird im kirchlichen Kontext Glauben zerstört. Ein Glaube an einen Gott, der Leben schenkt und die Kleinen großmachen will. Ich will eine andere Kirche. Diese können wir nur gemeinsam gestalten. Der Glaube an Gott darf nie dazu herhalten, Menschen zu erniedrigen, oder sie zum Instrument für eigene Bedürfnisse zu machen. In der Studie kommt wiederholt ein Thema vor, dessen Ausmaße wir erst langsam begreifen: die schrecklichen Folgen des Missbrauchs geistlicher Autorität, die auch in sexueller Gewalt münden kann. In der Deutschen Bischofskonferenz sind wir erste Schritte gegangen, diese Zusammenhänge anzuschauen und zu bearbeiten.
Es ist eine besondere Stärke der EVV-Studie, dass wir nicht nur eine reine Aktenstudie vor uns haben, sondern dass Rechtsanwalt Weber zahlreiche Gespräche mit Betroffenen und Wissensträgern aus dem Bistum geführt hat. Sein interdisziplinärer Ansatz ist ein großer Gewinn, der eine wichtige Grundlage für die weitere Aufarbeitung im Bistum sein wird. Denn der Abschlussbericht von Herrn Weber ist nicht das Ende der Aufarbeitung im Bistum Mainz. Er ist ein wichtiger Schritt auf unserem Weg der Aufarbeitung, der weitergeht.
Ich möchte heute Ulrich Weber und seinem Team für die viele Arbeit danken, die sie mit der Erstellung dieser Studie auf sich genommen haben. Den Betroffenen und denen, die ihr Wissen in die Studie eingebracht haben, kann ich nur nochmals meinen Dank und meinen Respekt zollen. Dazu gehörte viel Mut und das Vertrauen, dass sie ernst genommen werden. Ich bin dankbar dafür, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Das Sprechen über sexualisierte Gewalt soll kein Tabu mehr in der Kirche sein. Wir wollen aus dem Versagen der Vergangenheit lernen. Mit großem Einsatz engagieren sich im Bistum zahlreiche Haupt- und Ehrenamtliche dafür, dass Präventionsmaßnahmen umgesetzt werden. Wir tun in diesem Bereich mit hohen Standards alles, um Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu verhindern. Es ist ein Kulturwandel, der seit einigen Jahren im Bistum Mainz stattfindet. Dieser Weg ist unumkehrbar. Die Zahl von 20.000 Haupt- und Ehrenamtlichen, die bei uns bereits eine Präventionsschulung absolviert haben, gibt einen Eindruck davon, dass dieser Wandel das ganze Bistum betrifft und nicht allein die Bistumsleitung oder das Bischöfliche Ordinariat.
Papst Franziskus hat vor einigen Wochen in einem Interview den Wert von Kritik auch an seiner eigenen Person hervorgehoben „Kritik hilft, zu wachsen und Dinge zu verbessern“, sagte er damals. Das kann ich mit Blick auf das Thema Missbrauch auch für die Kirche und unser Bistum sagen. Aber es darf nicht eine statische Kritik sein, die keinerlei Veränderung und Entwicklung wahrnimmt oder wahrnehmen will. Ich lade dazu ein, den grundlegenden Wandel in dieser Frage zur Kenntnis zu nehmen. Gewiss brauchen wir einen langen Atem auf diesem Weg. Und ich habe auch die Hoffnung, dass unsere Bemühungen in der Kirche einen Beitrag dazu leisten, den Umgang mit Missbrauch und Betroffenen in anderen gesellschaftlichen Bereichen voranzubringen.
Als Kirche sind wir zurzeit in einer tiefen Krise, aus vielfältigen Gründen. Aber die Geschichte zeigt, dass sich die Kirche stets weiterentwickelt hat. In dieser Zuversicht treiben wir im Bistum die Aufarbeitung voran. Und in dieser Zuversicht werde ich auch morgen zum Synodalen Weg fahren, dessen letzte Sitzung in Frankfurt beginnt. Die Missbrauchsthematik und vor allem die MHG-Studie aus dem Jahr 2018 sind Ausgangspunkt für dieses neue Miteinander von Laien und Bischöfen in Deutschland, das wir uns auch im Bistum Mainz zu eigen machen.
In unserem Bistum fangen wir nicht bei Null an. Dennoch gibt es den Bedarf einer Weiterentwicklung synodaler Strukturen und eines Miteinanders bei uns. Es gibt, wie Sie wahrnehmen, Widerstände gegen eine derartige Kulturveränderung der Kirche auch von Seiten Roms, aber nicht nur von dort. Dennoch scheint mir der Prozess einer Veränderung unumkehrbar zu sein. Die Studie spricht es deutlich an: Missbrauch ist immer verbunden mit Machtausübung, einer bestimmten Sexualmoral und dem kirchlichen Umgang mit ihr, mit männerbündischen Netzen und auch der priesterlichen Lebensform und deren Selbstverständnis – unbeschadet der Tatsache, dass es nicht nur Missbrauchstäter aus dem Priesterstand gab und gibt.
Papst Franziskus will eine synodale Kirche, eine Kirche, die Menschen einbindet in Beratungen und Entscheidungen. Wenn wir das ernst nehmen, wird dies die kirchliche Kultur entscheidend verändern. Zu oft lese ich in der Studie von einsamen, nicht kommunizierten Vorgängen. Das war die Folge eines bestimmten Kirchenverständnisses. Dieses Bild von Kirche will ich und müssen wir verändern. Dass es nicht um Belanglosigkeiten geht, merken wir alle an den Reaktionen auf diese ersten Schritte, die die Kirche nicht nur in Deutschland, sondern weltweit geht.