© Eakrin | stock.adobe.com
7. März 2023
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„Es wird im Bistum viel mehr gewusst, als wir wissen.“ Das war 2019 meine Überzeugung, als wir das Projekt EVV initiierten. In meiner neuen Verantwortung als Generalvikar war ich zum ersten Mal mit Strafakten konfrontiert. Es gab die Gespräche mit Betroffenen und Beschuldigten. Ich wollte mehr wissen. Ich musste mehr erfahren. Heute weiß ich durch die Studie tatsächlich mehr als bisher. Ich weiß mehr, als ich durch meine eigene Akteneinsicht erkennen konnte. Und ich bin bestätigt worden. Allerdings in einem erschreckenden Maße.
Die letzten Tage habe ich viele Stunden gelesen, Seite für Seite. Es hat mich aufgewühlt: Das ans Tageslicht kommende Leid, die widerfahrene Ungerechtigkeit und das gefährlich-fahrlässige Handeln. Es ist schwer erträglich. Der gebündelte Blick auf das, was geschehen ist und was unterlassen wurde – in dem Ausmaß hatte ich es nicht für möglich gehalten.
Wir wissen jetzt mehr, als wir bisher wussten: vor allem, wie tief der Graben zwischen öffentlicher Rede und internem Handeln über weite Strecken war. Etliche Menschen - manche mit Wut, andere mit Traurigkeit - haben mir im Blick auf Kardinal Lehmann gesagt: Mein Bild von ihm ist zerbrochen! Mir ergeht es ähnlich.
Mich treiben Fragen um: Wie geht das zusammen?
Ich habe das Gefühl, als hätte ich nur noch Splitter der Wirklichkeit in den Händen. Ich kann sie momentan nicht zusammenfügen. Vielen ergeht es ähnlich. Wir werden gemeinsam um eine angemessene Erinnerungskultur der ganzen Wirklichkeit seines Wirkens ringen müssen! Das gilt auch für die anderen Bischöfe und Verantwortungsträger. Auch über sie wurde verborgenes Wissen gehoben.
Die Studie dokumentiert auch: Ja, es gab Entwicklungen. Aber Veränderungen geschahen viel zu langsam. Ganz lange handelte man nur aufgrund von äußerem Druck. Man hat erst dann etwas verändert, wenn es gar nicht mehr anders ging. Die Studie führt uns vor Augen: Es brauchte den Druck von außen. Die Studie schreibt uns aber auch ins Stammbuch: Druck alleine reicht nicht für nachhaltige Veränderungen. Es braucht innere Überzeugung, eine gute Unterscheidung im Geist des Evangeliums, vor allem aber einen klaren Willen, sich als „Kirche unterwegs“ und deshalb als lernende Institution zu begreifen - auf allen Ebenen.
Die Zeugnisse der Betroffenen haben eine enorme Wucht. Das ist eine der Stärken dieser Studie: Sie gibt den Betroffenen ganz viel Raum. Die Studie löst ein, was ihr Auftrag war: Öffentlichkeit herzustellen über das, was man bisher nicht wahrhaben wollte; das verborgene Wissen all derer zu heben, die bisher keine Chance oder nicht den Mut hatten zu reden. Ein neues Bild der Wirklichkeit liegt vor uns. Das Sprechen der Betroffenen, das gehobene Wissen des Umfeldes und die ungeschönte Analyse der Akten und internen Abläufe zeichnen dieses neues Bild der Wirklichkeit. Dahinter können wir nicht mehr zurück - weder die Verantwortungsträger, noch die Menschen in unseren Gemeinden und Einrichtungen.
Es braucht noch viel Anstrengung, die Aufarbeitung im Bistum Mainz weiter voranzubringen und weitere Konsequenzen daraus zu ziehen. Dafür bin ich angetreten als Generalvikar. Für eine lernende Kirche, für Professionalisierung, für good Governance. Das fordert auch die Studie. Ich nehme sehr ernst, welche Organisationsmängel in den Darlegungen von Weber und Baumeister vor allem im 5. Kapitel benannt werden, und was sie uns mitgeben für die weitere Organisationsentwicklung. Wir haben jetzt schon zusätzliche Fachkräfte eingestellt, um die komplexen Prozesse auf allen Gebieten unseres kirchlichen Handelns neu aufeinander abzustimmen und weiterzuentwickeln.
Weber und Baumeister haben die schon umgesetzten Ergebnisse der lernenden Organisation dokumentiert:
Die von Weber so genannten Phasen Lehmann II + III haben gezeigt, dass eine Aufteilung in eine „politische“ und in eine „operative“ Verantwortung dann verhängnisvoll sein kann, wenn Entscheidungen nicht wirklich gemeinsam verantwortet werden. Dazu nimmt uns die EVV-Studie in die Pflicht: Keiner soll künftig sagen können, er habe Verantwortung „wegdelegiert“. Jeder hat seinen Part der Verantwortung einzubringen.
Um das sicherzustellen, braucht es nicht nur veränderte Strukturen. Die besten Verfahren nutzen wenig, wenn die beteiligten Akteure nicht auch mit adäquaten Haltungen agieren. Daher braucht es:
Dafür setze ich mich ein und stehe auch dazu in Zukunft. Weitere Aspekte kommen hinzu. Wir arbeiten an einem alle Bereiche umfassenden institutionellen Schutzkonzept. Derzeit läuft ein umfangreiches Qualifizierungsprogramm zur Führungs- und Leitungsverantwortung. Mehr als 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden darin derzeit geschult. Das sind wichtige Bausteine der Qualitätssicherung kirchlichen Handelns.
Diese Lernschritte aus der schmerzhaften Erfahrung kirchlichen Versagens dürfen nicht auf das Segment „Intervention und Prävention“ begrenzt bleiben. Es ist ein Trugschluss zu meinen, eine neue Kultur allein in diesem Bereich schaffe Glaubwürdigkeit für das Ganze. Eine kirchliche Führungskultur, die dem Anspruch unserer eigenen Verkündigung und unseren Überzeugungen aus dem Evangelium standhält, betrifft das ganze kirchliche Handeln. Eine glaubwürdige Kirche muss nicht nur glaubwürdig handeln. Eine glaubwürdige Kirche muss auch glaubwürdig organisiert sein.
Die Studie bestärkt mich in meiner Überzeugung: Es braucht eine Qualitätssicherung unserer Seelsorge, damit wir in guter und verlässlicher Weise nah bei den Menschen sein können!
Es ist an vielen Stellen immer noch nicht selbstverständlich, sich so als lernende Kirche zu begreifen. Ich habe auch Widerstand, Gleichgültigkeit und Skepsis gegenüber diesen Lernschritten erlebt. Es gibt aber bei uns zu einem ganz großen Teil engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diesen Weg aktiv und mit viel über das normale Maß hinausgehendem Engagement unterstützen! So wie es nie nur einzelne Verantwortungsträger sind, die ein System zerrütten - das hat die Studie gezeigt -, so können es nie nur einzelne wenige Verantwortungsträger sein, die eine Organisation weiterentwickeln. Deshalb ist es mir ein ausdrückliches Anliegen, hier auch allen zu danken, die mit uns den Karren aus dem Schlamm ziehen! Bei allen immer noch vorhandenen Unzulänglichkeiten und Optimierungsmöglichkeiten erlebe ich, wie viele wir sind, unserem Bistum gemeinsam eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
Glaubwürdigkeit kann man nicht machen, sie wird einem geschenkt. Neues Vertrauen kann man nicht einfordern, es muss wachsen. Aber man kann für all das den Boden bereiten. Ich will mich weiterhin mit allen Kräften dafür einsetzen!