Schmuckband Kreuzgang

Fest des Heiligen Martin, 11. November

"In die Lücken der Mitmenschlichkeit mit dem Evangelium der Menschenfreundlichkeit vorstoßen"

Heiliger Martin (c) Katholische Pfarrgemeinde Sankt Martin
Heiliger Martin
Datum:
Fr. 11. Nov. 2022
Von:
Helena Doetsch

Am 11. November 2016 feierten wir in Dietzenbach den Abschluss des Jubiläumsjahres 1700 Jahre Heiliger Martin und 70 Jahre Gemeindegründung mit einem Pontifikalamt mit Weihbischof Dr. Udo Markus Bentz. Seine Predigt „In die Lücken der Mitmenschlichkeit mit dem Evangelium der Menschenfreundlichkeit vorstoßen“ ist eine Anfrage an uns, wie wir unseren Auftrag als "Gemeinde mit dem Patron Heiliger Martin" leben
(hier die Predigt in Auszügen aus dem Pfarrbrief Portal 01-2017, S. 53):


„Schwestern und Brüder,
... Die Botschaft von der Menschenfreundlichkeit unseres Gottes ist keine Botschaft allein für
ein Jenseits nach unsrer Zeit. Das Evangelium ist Sauerteig für die Menschen jetzt inmitten unsrer Zeit! Der Glaube ist nicht nur eine Kraft frommer Sinnstiftung für den Einzelnen. Der Glaube ist auch eine Kraft ethischer Orientierung für das Zusammenleben der Menschen.

Und so ist es gut, dass wir das Fest des Heiligen Martin feiern. Seine Geste der Mantelteilung hat Geschichte geschrieben. Diese Geste der Mantelteilung wurde zur Ikone der Nächstenliebe, zum lnbegriff für die Achtung der Würde des Schwachen, zu einem bleibenden Symbol für die Zuwendung zum Bedürftigen aus dem Geiste Christi heraus.

Der früheste Schreiber über das Leben des Hl. Martin, Sulpicius Severus, beschreibt diese Szene am Stadttor von Amiens, in der Martin Armen begegnet. Hören wir einmal genauer hin:
,,Einmal begegnete ihm [Martin] am Stadttor von Amiens ein notdürftig bekleideter Armer.
Der flehte die Vorübergehenden um Erbarmen an. Aber alle gingen an dem Unglücklichen
vorbei. Da erkannte Martin voll des Geistes Gottes, dass jener für ihn vorbehalten sei,
weil die anderen kein Erbarmen übten.“
Ort des Geschehens ist das Stadttor - die Stadt war im Mittelalter der gesicherte Ort, mit Stadtmauer, Befestigungen und Wächtern. Die städtische Gesellschaft bot Schutz. Außerhalb der Stadt war man vielfältigen Gefahren ausgesetzt.
Die ,,Caritas von Amiens“ ereignet sich am Rande der Stadt, genau an der Grenze zwischen Schutz und Schutzlosigkeit. Martin teilt seinen Mantel an einem entscheidenden Ort: an der Peripherie derGesellschaft. Nicht im gesicherten Bezirk, sondern an der Peripherie begegnet er Christus im Armen! Das kennen wir! Papst Franziskus wird nicht müde, uns - seine
Kirche der Gegenwart - auf diesen entscheidenden Ort der Christusbegegnung aufmerksam zu machen. Und mit Martin haben Sie, liebe Schwestern und Brüder der Gemeinde St. Martin in Dietzenbach, einen Patron, der - im Bild gesprochen - auch Sie an ihre Stadttore, an die Peripherie führen will: Unsere Aufgabe als Kirche inmitten unserer säkularen Gesellschaft mit all ihren Brüchen und Verwerfungen, mit ihren sozialen Herausforderungen - unsere Aufgabe als Kirche inmitten unsrer Zeit muss es sein, Christus zu suchen an den Peripherien, den Rändern und Abgründen. - Das Evangelium muss auch und gerade dort verkündet werden, meist weniger durch Worte, zuerst durch Taten. Aber wir brauchen eine Sensibilität, ein Gespür und eine Aufmerksamkeit und einen festen Willen, diese Peripherien ausfindig zu machen: Die Not der Menschen tritt uns nicht immer offenkundig entgegen. Die Not versteckt sich verschämt, verbirgt sich, zieht sich zurück, gärt im Verborgenen. Die Not hat ein ungewöhnliches Gesicht - vielleicht sogar deshalb ungewöhnlich, weil so unscheinbar alltäglich! Darüber müssen wir im Gespräch sein, da sind wir aufgefordert, uns gemeinsam Gedanken zu machen, uns gegenseitig Sehhilfe zu leisten - damit wir Christus erkennen können im Bedürftigen! ,,Kirche am Stadttor“ sein. Kirche an der Peripherie!

Die Beschreibung von Sulpicius Severus ist aber auch noch in einer anderen Hinsicht aufschlussreich: Es wird von den Menschen erzählt, die achtlos vorbeigehen. Der Arme fleht die Vorübergehenden um Erbarmen an. Sie alle aber gingen vorbei. Weil keiner Erbarmen zeigt, erkennt Martin, dass der Arme für ihn bestimmt ist. Wo ist unser Ort als Kirche? Wo begegnen wir Christus? Überall dort, wo die anderen ,,achtlos Vorübergehende“ sind.
• Dort also, wo die anderen wegschauen, ermutigt uns Martin hinzuschauen.
• Dort also, wo die anderen vorübergehen, ermutigt uns Martin stehen zu bleiben.
• Dort also, wo die anderen jemand übersehen, ermutigt uns Martin Ansehen zu geben.
Die Kirche hat ihre Sendung dort zu erfüllen, wo die anderen wegsehen, vorübergehen und übersehen. Die Kirche erfüllt dort ihre Sendung, wo sie den bedürftigen Menschen wahrnimmt, stehenbleibt, Zuwendung lebt, Ansehen schenkt! Als Kirche müssen wir Experten sein fü r die ,,Lücken der Mitmenschlichkeit“ in unserer Gesellschaft. Und: Wir haben die Sendung, in diese Lücken der Mitmenschlichkeit mit der Botschaft des Evangeliums von der Menschenfreundlichkeit Gottes vorzustoßen!
Und jetzt erkennen wir, warum diese uralte Geste der Mantelteilung des Hl. Martin ein in allen Zeiten notwendiger Stachel im Fleisch menschlicher Gleichgültigkeit und eine enorme Inspiration der Mitmenschlichkeit ist.
Der Kirche, dem christlichen Glauben geht es mit der Menschenfreundlichkeit Gottes nicht um ein billiges ,,Gutmenschentum“, nicht um ein gnädiges Erbarmen gegenüber dem Bedürftigen ,,von oben herab“. Wer im Armen Christus sieht, lebt das Evangelium von der Menschenfreundlichkeit Gottes niemals ,,von oben herab“, sondern setzt alles daran, die von Gott geschenkte Würde gerade auch des Bedürftigen und Verachteten zu achten, zu schützen, und wieder herzustellen.
... Wir mü ssen uns mehr als Kirche auf den Glauben konzentrieren. Aber: Je mehr wir uns als Kirche auf unseren Glauben konzentrieren, umso entschiedener werden wir auch in einem bestimmten Sinne Politik machen - nämlich Gesellschaft mitgestalten müssen!

ln der Schweiz gibt es in Zillis eine außergewöhnliche, wunderschöne Darstellung dieser Szene am Stadttor: Martin sitzt nicht ,,hoch zu Ross“. Sprichwörtlich ist das Pferd Symbol von Macht und Herrschaft. Martin steigt von seinem hohen Ross herab! Und - Achtung! - der Bettler sitzt auf einem Thron! Unser Glaube, Gottes Barmherzigkeit macht den Armen nicht klein - sondern erkennt und anerkennt im Armen eine unverbrüchliche Würde.

Auszüge aus der Predigt von Weihbischof Dr. Udo Markus Bentz am 11. November 2016 in Sankt Martin, Dietzenbach