Liebe Gemeinde!
Es ist Sonntag. In schöner Ordnung stehen die Stühle im Halbkreis um den Altar, Gebet und Gesang, Kerzenschein, Messdiener, der Pfarrer – alles, was zu einem Gottesdienst im Saal des Camarahauses gehört. Ich glaube, man kann hier gut zur Ruhe kommen…
Aber – waren Sie schon einmal mittwochs in diesem Saal? Da sieht es hier ganz anders aus! Da herrscht geschäftiges Treiben: Kisten werden ausgepackt, Lebensmittel, die sonst im Müll gelandet wären, werden sorgfältig sortiert und an Menschen in Not weitergegeben. Zum Brotkorb für Menschen mit geringem Einkommen gesellen sich die Kleiderkammer, die Schreibstube und ein Begegnungscafé – Orte, an denen Menschen Kleidung, Hilfe und Gemeinschaft finden. All das trägt nun schon seit 15 Jahren den sehr treffenden Namen „Leben teilen“.
Hinter diesem Angebot steht das Engagement von rund fünfzig Ehrenamtlichen. Man spürt, dass hier nicht bloß verteilt, sondern wirklich geteilt wird – Zeit, Aufmerksamkeit, Empathie – eben das Leben mit seinen Grundbedürfnissen. Ein ganz gewöhnlicher Mittwoch in Nieder-Olm – und doch ein außergewöhnliches Stück gelebte Solidarität.
„Leben teilen“ feiert in diesem Jahr sein 15-jähriges Bestehen. Es hat – so habe ich am Freitag erst gelernt – seit seinen Anfängen bereits über 110.000 Menschen in Notsituationen unterstützt. Armut ist bei uns in Deutschland oft nicht sichtbar, aber sie ist da. Armut hat viele Ursachen: Krankheit, Flucht, Arbeitslosigkeit, Trennung, Schulden, Alter – und manchmal einfach das Leben selbst. Ich kann mir vorstellen, dass Menschen, die unter dem Existenzminimum leben müssen, sich in unserem reichen Land manchmal wie „aussätzig“ vorkommen – ausgeschlossen, übersehen, am Rand der Gesellschaft.
Aussätzig sein… Der heutige Text aus dem Lukasevangelium konfrontiert uns gleich mit zehn Aussätzigen. Zu Jesu Zeit wurden Aussätzige aufgrund von Hautkrankheiten – nicht nur der gefährlichen Lepra – als „unrein“ erklärt. Damit setzte ein Ritual der sozialen und religiösen Ausgrenzung ein: Aussätzige durften nicht in der Gemeinschaft leben, nicht am Gottesdienst teilnehmen, verloren ihren Platz in der Familie und ihre wirtschaftliche Sicherheit.
Alle Menschen sehnen sich nach einem würdevollen, sinnvollen und guten Leben – damals wie heute. Ein Leben, wie Gott es für jedes seiner Geschöpfe gedacht hat.
In den Heilungsgeschichten der Bibel erfahren wir, wie Jesus immer wieder die Voraussetzungen für ein solches Leben wiederherstellt. Dabei macht er keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern, Jung und Alt, Einheimischen und Fremden, zwischen verschiedenen sozialen Schichten, Kulturen und Religionen.
So steht die biblische Zahl zehn sinnbildlich für die ganze Menschheit: Zehn Aussätzige begegnen Jesus – und in ihrer Heilung wird deutlich, dass Gott für jeden die Fülle des Lebens bereithält und seine Zuwendung allen gilt.
Jesus lebt uns vor: Heil entsteht dort, wo wir einander wahrnehmen, sehen und uns einander zuwenden – gerade denen, die sich wegen ihrer Armut, Krankheit oder Fremdheit fernhalten, verbergen oder zurückziehen. Jesus ermutigt die Aussätzigen, sich zu zeigen. Zu sich zu stehen, wie sie sind: „Geht, zeigt euch!“
Dafür braucht es aber auch Menschen, die bereit sind, jene am Rande der Gesellschaft anzusehen – Armut, Krankheit, Einsamkeit oder Fremdheit nicht auszublenden. Im Alltag begegnen wir solchen Situationen selten. Doch ist es nicht unser aller christlicher Auftrag, dort tätig zu werden, wo Hilfe und Solidarität gebraucht werden? Können wir uns einfach darauf verlassen, dass ein Vorzeige-Projekt wie „Leben teilen“ unsere Aufgabe schon erfüllt? Wie gehen wir selbst mit Armut und Not um, wenn wir damit konfrontiert sind? Solche Fragen sollten wir uns immer wieder stellen.
Die Ehrenamtlichen, von denen ich einige heute auch hier sehe, stehen mit ihrem Dienst bei „Leben teilen“ direkt in Jesu Nachfolge: In dem schlichten Namen „Leben teilen“ steckt die Botschaft von Heilung durch Begegnung und Solidarität: Leben ist Menschsein – mit allem, was dazu gehört: mit Hoffnung, mit Würde, eben mit der Sehnsucht jedes Menschen: Dass sein Leben gelingt. Jeden Mittwoch teilen hier Menschen ein Stück ihres eigenen Lebens, ihrer Zeit, ihrer Kraft – damit das Leben anderer besser gelingt. Es geht um Begegnung, ums Dasein, ums Zuhören, um Solidarität und Unterstützung – auf Augenhöhe. Hier werden Menschen ermutigt, sich so zu zeigen, wie sie sind. Hier erhalten Menschen wieder Ansehen, weil sie angesehen werden.
Schon lange – sehr lange – bevor das große Banner mit der Aufschrift „Alle sind willkommen“ vor unserer Kirche ausgespannt wurde, haben die Ehrenamtlichen vom Projekt „Leben Teilen“ diesen christlichen und gesellschaftlichen Auftrag in die Tat umgesetzt. Sie haben diesen Satz gelebt, lange bevor er auf Stoff gedruckt wurde. Und das bildet sich in der Vielfalt der Menschen jeden Mittwoch im Camarahaus ab.
Deshalb lasst uns dankbar sein für alle Menschen, die sich einander zuwenden, die sich gegenseitig wertschätzen und die die sich zeigen, wie sie sind.
Der Benediktinerpater Anselm Grün schreibt:
Wenn du versuchst, so zu leben, wie Gott dich gemeint hat, wenn du dein ursprüngliches Bild in dieser Welt sichtbar werden lässt, dann trägst du dazu bei, dass diese Welt heller und heiler wird. Dort, wo du lebst, leuchtet dann mitten in der Nacht ein Stern, auch wenn er noch so klein ist. Aber dieser eine Stern verwandelt die Nacht.
Amen.