„Es ist noch nicht so lange her, dass Pflegekräfte beklatscht wurden und ihre so genannte Systemrelevanz mit starken Worten herausgestellt wurde.“ So leitete Bischof Dr. Peter Kohlgraf seine Predigt im Gottesdienst im Mainzer Dom am Samstag, 30. April, dem Vorabend zum Tag der Arbeit, ein. Die mangelnde Wertschätzung der Pflegeberufe und die Forderung nach einer Kehrtwende standen auch im Fokus der Betrachtungen beim anschließenden Austausch im Erbacher Hof. Dazu hatten die Betriebsseelsorge im Bistum Mainz, der KAB-Diözesanverband Mainz und der Diözesanverband Mainz des Kolping-werks eingeladen. Die Überschrift der Veranstaltung lautete: „Fünf nach zwölf! – Pflege (im) Dauer-Notstand! Vom Zusammenbruch einer Branche und dem Ruf nach notwendiger Kehrtwende“.
„Es ist hier auch der Ort, die Arbeit der Menschen in Pflegeberufen wertzuschätzen und ihnen einen herzlichen Dank zu sagen, nicht nur angesichts der Strapazen in der Corona-Krise“, betonte der Mainzer Bischof in seiner Predigt. Das Thema Pflege, Heilung und Zuwendung führe selbstverständlich ins Herz der christlichen Botschaft. „Denn: Christus ist der Heiland. Er heilt, er rettet, er berührt, er wendet sich dem Menschen zu. All das steckt in dem alten Wort vom Heiland.“ Gerade in der Osterzeit, „in der wir immer auch die Erzählungen der Urgemeinde in Jerusalem hören, fällt deutlich auf: Die Jünger Jesu heilen und richten auf. Das gehört zum Kernauftrag der Kirche.“
Das heilende Handeln der Jünger komme nicht allein aus ihnen, sondern entspringe einer inneren Quelle, erläuterte Bischof Kohlgraf. Diese Quelle sei ihr Glaube. Menschen, die für andere da sind, bräuchten innere Quellen. „Ich wünsche allen Menschen in der Pflege, dass sie solche Quellen haben, die ihr Inneres nicht austrocknen lassen.“ Man könne auf Dauer nur etwas weitergeben, das einen selbst erfüllt. Wer als Christin oder Christ lebt, habe „österliche Augen“, griff Kohlgraf ein vom früheren Aachener Bischof Klaus Hemmerle geprägtes Bild auf. Es mache Mut, gerade auch die leidenden und kranken Menschen mit Hoffnung und Liebe zu betrachten, „sozusagen durch die Augen Jesu“.
Zur Pflege gehörten Nähe und Berührung, das habe zuletzt auch die Corona-Zeit gezeigt, erinnerte Bischof Kohlgraf unter anderem an Situationen, dass Menschen ihre in Pflegeheimen sterbenden Angehörigen nicht besuchen durften. „Ein wenig sind die Maßstäbe verrückt in diesen Zeiten. Das Heil des ganzen Menschen war nicht immer im Blick.“ Daher werde an diesem Vorabend des 1. Mai auch darüber gesprochen, welche Bedingungen Politik und Arbeitgeber schaffen können, um diese Arbeit angemessen zu würdigen. Dazu gehören finanzielle Anreize, aber auch Wertschätzung und gute Arbeitsbedingungen, sagte Kohlgraf. Zunächst aber dankte er allen, die in der Pflege arbeiten: „Ich hoffe, dass es nicht beim Corona-Applaus bleibt. Das ist Aufgabe der Politik, aber natürlich auch Aufgabe der Kirche. Wir als Kirche werden daran arbeiten müssen, immer mehr eine menschennahe und heilende Kirche zu sein und zu bleiben.“
Im Anschluss an den Gottesdienst wurde der von den Zwillingsbrüdern Pfarrer Dr. Friedrich Franz Röper und Pfarrer Harald Christian Röper gestiftete Preis der „Pfarrer Röper-Stiftung“ im Mainzer Dom an das inhabergeführte Familienunternehmen Oniro Kosmetik in Ingelheim verliehen. Ziel des 2011 von der Kosmetologin Elena Karanika gegründeten Unternehmens ist es, Chancen für Mädchen und junge Frauen aus schwächeren sozioökonomischen Bedingungen, mit Migrationshintergrund oder nach einem Ausbildungsabbruch zu bieten, damit sie eine Ausbildung abschließen können. Karin Jung von der Kolpingsfamilie Gau-Algesheim hatte Oniro Kosmetik für seine Verdienste um die Ausbildung benachteiligter Jugendlicher als Preisträger vorgeschlagen. Elena Karanika nahm die Urkunde und eine Nachbildung der von Karlheinz Oswald geschaffenen Skulptur, einer Frauengestalt als Symbol der Caritas, entgegen.
Den Impulsvortrag hielt Professor Dr. Stefan Sell, Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz, zum Thema des Abends: „Fünf nach zwölf!“ – Pflege (im) Dauer-Notstand“ und belegte dies mit vielen Zahlen, aber auch mit seinen eigenen Erfahrungen. Sell führte aus, dass im Jahr 2019 von den 4,1 Millionen Pflegebedürftigen in der Bundesrepublik Deutschland rund 80 Prozent zu Hause versorgt wurden, nur 20 Prozent in Pflegeheimen. Schätzungsweise seien mindestens 300.000 Betreuungskräfte aus Osteuropa in privaten Haushalten tätig, sagte Sell.
Auch im Blick auf die weiter wachsende Zahl von Pflegebedürftigen gelte es, die ambulante Pflege aus dem Schatten der Aufmerksamkeit herauszuholen. Im Jahr 2019 arbeiteten in den 15.400 Pflegeheimen 796.500 Beschäftigte, darunter viele Teilzeitkräfte. Vorschläge, zusätzliche Hilfskräfte anzulernen, lehnte Sell ab: „Das würde eine Mehrbelastung für die Pflegekräfte bedeuten.“ Sell unterstrich, dass man schon viel früher eine Ausbildungsoffensive hätte angehen müssen – „auch schon vor der Corona-Zeit“. Denn bis zum Jahr 2030 würden, so schätzten Experten, voraussichtlich 250.000 bis 500.000 Mitarbeitende in der Pflege fehlen, wenn die jetzige Entwicklung anhalte.
Dem Vortrag schloss sich ein Podiumsgespräch an, das von Pitt von Bebenburg, Redakteur der Frankfurter Rundschau, moderiert wurde. Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Diskussion waren Markus Hansen, Geschäftsführer der Caritas Altenhilfe St. Martin Rheinhessen gGmbH, Michael Quetting, ehemaliger Pflegebeauftragter, ver.di Rheinland-Pfalz/Saarland, Sybille Pechmann, Examinierte Pflegekraft, Ambulante Altenhilfe, Offenbach, Professor Sell sowie Ingrid Reidt von der Katholischen Betriebsseelsorge.
Hinweis: Weitere Informationen auch unter bistummainz.de/betriebsseelsorge