„Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid…“

Predigt von Weihbischof Dr. Udo Markus Bentz zur Feier der Christmette im Mainzer Dom

Weihbischof Bentz predigt (c) Bistum Mainz / Blum
Datum:
Sa. 24. Dez. 2016
Von:
(MBN)

Schwestern und Brüder,

vor zwei Wochen habe ich hier im Mainzer Dom eine adventliche Meditation gehalten zu Jochen Kleppers Weihnachtslied „Die Nacht ist vorgedrungen“. Das „doppelte Gesicht der Nacht“ hat mich dabei sehr bewegt: die Nacht als Zeit der Bedrängnis, die Nacht aber auch als Zeit der Verheißung. Und dann hatte ich über die vierte Strophe dieses Liedes gesprochen, in der es heißt: „noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid.“ Vor zwei Wochen sagte ich: „Dieses Weihnachtslied widersteht der Versuchung, die frohe Botschaft von Weihnachten so zu verkünden, dass man in einen religiösen Rausch versetzt wird…“ Heute - zwei Wochen später feiern wir Weihnacht. Und tatsächlich ist eine Nacht gefallen auf Menschenleid.

Es ist Weihnacht und schwarze Nacht – für Menschen, die durch sinnloses Morden, rohe Gewalt und perfide Attentate getroffen sind. Der LKW auf dem Breitscheidplatz in Berlin, das Attentat vor laufender Kamera in einem Istanbuler Museum, die brennenden Busse in Aleppo, die eigentlich zur Evakuierung wehrloser Zivilisten bestimmt waren, die durch Bomben zerfetzte, koptische Kirche in Kairo. In immer neuen Fratzen zeigt sich das Böse, zu dem der Mensch fähig ist. Ob wir wollen oder nicht, das lässt sich nicht leugnen. Es ist Nacht. Weihnacht?

Es ist Nacht – auch für viele von uns, die nicht unmittelbar getroffen sind, aber Angst und Verunsicherung spüren. Angst breitet sich aus: Wo führt das hin? Was wird das nächste sein? Die Verunsicherung und Angst der Menschen ist nicht grundlos. Wir dürfen sie nicht überhören. Und es wird die Aufgabe aller Verantwortlichen sein, genau hinzusehen, gut zu unterscheiden – Stimmungen und Ängste ernstnehmen und dafür zu sorgen, dass die Sicherheit für unsere Bürger gewährleistet ist. Aber wir müssen mit klarer Entschiedenheit der Tatsache entgegengetreten, dass manche in solchen Situationen bewusst Angst schüren: Es gibt sie, die skrupellosen Politstrategen, die jetzt Trauer und Entsetzen schamlos für ihre politischen Interessen ausnutzen. Es gibt Strategien, um in den kommenden Monaten im anlaufenden Wahlkampf aus dieser um sich greifenden Verunsicherung möglichst wirkungsvoll politisches Kapital zu schlagen: simple Antworten als scheinbare Lösungen schwieriger Probleme, polemische Zuspitzung und flotte Parolen, Provokationen und Ressentiments. Wir wissen noch nicht, wie das werden wird. Klar ist, dass wir als Christen dem entschieden entgegentreten müssen.

Ist es Nacht? Ist es Weihnacht?

Vor wenigen Wochen wurde das Wort des Jahres bekanntgegeben: „postfaktisch“. Wir leben in einer „postfaktischen“ Zeit, so sagt man: statt Faktenwahrheit gefühlte Wahrheit. Emotionale Eindrücke scheinen für die Meinungsbildung wichtiger zu sein als rationale Argumente. – Ist Weihnachten da nicht  geradezu „postfaktisch“? Mehr Stimmung und Emotion als tatsächlich Realität und Wirklichkeit? Und andere sagen: Weihnachten hat sowieso nichts mit Fakten zu tun. Es gibt keine historischen Fakten zu dieser Nacht in Bethlehem. Angesichts der Ereignisse dieser Tage könnte man sogar sagen: Die Botschaft von Weihnachten in diesem Jahr steht gegen die Fakten einer harten Realität dieser Tage.

Fakt ist: Es ist Nacht. Fakt ist aber auch: Es ist Weihnacht.

Vergangene Woche wurde der maronitische Bischof von Aleppo gefragt, ob er denn mit den verbliebenen Christen in der Stadt angesichts der humanitären Katastrophe überhaupt Weihnachten feiern könne. Seine schlichte Antwort: "Wir werden auf den Trümmern feiern, um zu erleben, dass die Hoffnung nicht stirbt." Daran können auch wir Maß nehmen.

Ein erster Gedanke:

Die Botschaft von den Feldern von Bethlehem wird in die Nacht hineingesprochen. In der Bibel überrascht das nicht. Alle entscheidenden Taten Gottes ereignen sich in der Nacht: die österliche Nacht der Auferstehung; das Mahl der Hingabe Jesu mit seinen Jüngern – dort heißt es ausdrücklich: „Es war aber Nacht!“ Der befreiende Durchzug des Volkes Israels durch das Meer geschieht in der Nacht. In der langen Geschichte Gottes mit seinem Volk gibt es immer wieder die Erfahrung der Nacht. Und immer wieder gibt es auch die Erfahrung: Gott beginnt sein Heil dort zu wirken, wo die Not des Menschen am bedrohlichsten erfahren wird – in der Mitte der Nacht ist der Anfang eines neuen Tags. Dieser Botschaft dürfen wir auch an diesem Weihnachtsfest vertrauen: Gott führt sein Volk durch die Nacht hindurch. Gott nimmt die Erfahrung der Nacht von uns Menschen ernst. Gottes Hoffnungsbotschaft für den bedrängten Menschen wird nicht an der Not vorbei in eine Scheinwelt hinausposaunt. Gott spricht sein rettendes Wort in die Nacht des Menschen hinein. Und von der Weihnacht heißt es: „Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht bis zur Mitte gelangt war, da stieg dein allmächtiges Wort, o Herr, vom Himmel herab...“ (Weish 18,14f) Wir dürfen vertrauen: Gott kennt die Nacht des Menschen – auch die Nacht dieser Tage.

Ein zweiter Gedanke:

Das erste Wort, das in die Nacht von Bethlehem hineingesprochen wird, heißt: „Fürchte dich nicht!“ Auf manchen mag das jetzt in diesen Tagen klingen eher wie eine Provokation weniger wie ein Trost. Ich kann das verstehen. Und doch ist es das erste, was uns an Weihnachten gesagt wird, damit auch aus dieser Nacht Weihnacht werden kann. Zwar können wir unsere Angst und Verunsicherung nicht einfach abschütteln, wenn aber die erste Botschaft dieser Nacht lautet: Fürchte dich nicht! Dann heißt das: Fürchte dich nicht, gerade jetzt die Botschaft der Nacht von Bethlehem neu zu hören! Fürchte dich nicht, deine Vorbehalte gegenüber dem tröstenden Wort der Weihnachtsbotschaft angesichts der harten Realität zurückzustellen. Fürchte Dich nicht, wirklich hinzuhören, dann wirst du auch die Hoffnungskraft der Botschaft erkennen können!

Gerade jetzt kommt es darauf an, dass wir den Ressentiments und den Ängsten nicht die Macht überlassen. Genau das sollen solche Schreckenstaten bei uns bewirken: Dass wir in Angst fallen und uns lähmen lassen; dass wir in Ressentiments verfallen und uns in unserem Zusammenhalt auseinanderdividieren lassen, dass Hass und Schuldzuweisungen um sich greifen und uns spalten. Als weihnachtliche Menschen glauben wir fest: Gottes „Fürchte dich nicht!“ ist jetzt wichtiger denn je. Fürchte dich nicht, darauf zu vertrauen, dass Besonnenheit und Maß und der Verzicht auf vorschnelles Urteilen zwar der anspruchsvollere, aber der nachhaltigere und von Weihnachten her der gebotene Weg zum Frieden ist. 

Und ein dritter Gedanke:

„Heute ist euch der Retter geboren.“ Was rettet uns? Wer rettet uns? Die Botschaft in der Nacht von Bethlehem, die in unsere Nacht hineingesprochen wird, ist ein Kind. Gott überwältigt den Menschen nicht mit seiner Heilsbotschaft. Gott wählt den Weg des Menschen, um seine Macht zu zeigen. Gott teilt den Weg des Menschen durch alle Niedrigkeiten und Nächte hindurch. Gott teilt das Schicksal von uns Menschen. Näher kann Gott dem Menschen nicht kommen. Gottes Menschlichkeit in diesem Kind der Krippe wird zum Maß unsrer Menschlichkeit. An Gottes Menschlichkeit, die wir in Jesus Christus erkennen, nehmen wir Christen für unser Menschsein Maß – Und wieder hören wir den Engel: Fürchte dich nicht! Fürchte dich nicht, zu glauben und zu vertrauen, dass nicht Macht und Gewalt den Menschen retten, sondern uns eine Menschlichkeit rettet, die uns in Jesus Christus vorgegeben ist. Dieses Maß der Menschlichkeit Jesu ist nicht banal. Es ist höchst anspruchsvoll. Dieses Maß der Menschlichkeit Jesu ist kein parteipolitisches Programm, sondern der innere Kompass für verantwortungsvolles Handeln. Dieses Maß der Menschlichkeit Jesu meint nicht „Gutmenschentum“ sondern ethische Verantwortung. Dieses Maß der Menschlichkeit Jesu ist der Weg zur Versöhnung – der einzige Weg zum Frieden, wie er uns auf den Feldern von Bethlehem zugesprochen wird.

Es ist Nacht und doch ist es Weihnacht!

Sehen wir unsere Zeit im Spiegel der Botschaft von Weihnacht. Die Welt aus sich heraus ist zu einer solchen Botschaft nicht fähig. Es muss ihr „von oben“ gesagt werden. Da haben für den biblischen Menschen die Engel ihren Platz: „Fürchtet euch nicht!“ Lassen wir es zu, dass Gott auch in unseren Herzen die Botschaft verankern kann. Dann können wir getröstet und gestärkt von hier weggehen, zurückkehren an den Ort, an den Gott uns gestellt hat – und selbst Boten der Weihnacht inmitten der  Nacht sein. Vor vierzehn Tagen habe ich meine adventliche Meditation mit diesem Vers aus der vierten Strophe von Jochen Kleppers Lied beschlossen – das will heute erneut tun: „Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld. Doch wandert mit uns allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr. Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“

So Weihnachten zu feiern, steht uns gut an.