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Hospizgruppe Langen

Begegnung mit Frau G.
Ein Erfahrungsbericht der Hospizgruppe Langen


Es ist ein verregneter Oktoberabend, und meine Hände sind eiskalt. Endlich habe ich den Wohnbereich 4 des Jakob-Heil-Heimes erreicht. Seit fünf Jahren komme ich regelmäßig hierher und besuche Bewohnerrinnen und Bewohner, die bettlägerig sind oder einfach jemanden zum Zuhören brauchen. Auf dem Weg durch den Flur begegne ich vielen Bekannten, aber diesmal reicht die Zeit nur für ein paar kurze Worte. Im Stationszimmer lege ich meinen tropfen-den Schirm ab, und frage nach Frau G., die hinter einer der vielen Türen im Sterben liegt.

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer gibt mir die Schwester einige kurze Informationen: Die alte Dame ist völlig gelähmt und kann nicht sprechen. Schon seit Tagen kann sie nicht mehr schlucken, und das Atmen fällt ihr schwer. Ihre Angehörigen sind nicht erreichbar. Tagsüber haben die Schwestern abwechselnd bei ihr gesessen, aber abends und nachts ist das wegen der Personalknappheit leider nicht möglich.

Vor mir öffnet sich eine Tür. Was wird mich erwarten? Frau G. scheint zu schlafen. Ihr Atem geht keuchend. Eine blaue Glitterlampe auf dem Nachttisch taucht das Zimmer in ein beruhigendes Licht, und ein Duftlämpchen verströmt angenehm frischen Limonenduft. Im Hintergrund klingen leise Vivaldis „Vierjahreszeiten“ aus dem CD-Player. Frau G. hat Vivaldi immer so gemocht, erklärt mir die Schwester und lässt mich mit der Sterbenden allein.

Vorsichtig hänge ich meine feuchte Jacke über den Besucherstuhl neben dem Bett. Frau G. erwacht und sieht mich mit klaren Augen fragend an. Ich stelle mich vor und biete an, ihr eine Weile Gesellschaft zu leisten. Ob sie mich verstanden hat? Da ich keine Ablehnung in ihrem Gesicht erkennen kann, setze ich mich zu ihr ans bett. Zum Einstieg lese ich ein Herbstgedicht vor. Nachdem meine Finger wider warm geworden sind, streichele ich sanft ihre Hand. Für „Smaltalk“ ist hier kein Raum. Um eine Verbindung herzustellen schiebe ich vorsichtig meine Hand unter Frau G.’s Finger und bewege sie behutsam in ihrem Atemrhythmus. Die folgenden Stunden erlebe ich sehr intensiv: Es ist eine Zeit voller Musik und voller Stille, eine Zeit des Kampfes um jeden Atemzug und eine Zeit der Entspannung und des Loslassens. Hin und wieder lese ich ein Gebet oder einen bekannten Liedtext, aber die meiste Zeit halte ich beruhigend Frau G.’s Hand oder stütze ihren Oberkörper wenn die Hustenanfälle kommen und sie zu ersticken droht. Die Nachtschwester schaut regelmäßig herein und tupft den ausgetrockneten Mund der Kranken mit einem feuchten Stäbchen aus.

Frau G.’s Zustand wird stündlich schlechter. Ihre Augen werden trübe und ihre Lider sind halb geschlossen. Jeder Atemzug kostet sie große Anstrengung. Schließlich hören die Hustenanfälle auf und sie fällt in einen leichten Schlaf. Ich fühle, dass sie sich bereits weit von mir und diesem Zimmer entfern hat. Sie scheint mich nicht mehr zu brauchen, fast komme ich mir wie ein Eindringing vor. Trotzdem fällt mir der Abschied schwer. Gerne wäre ich bis „zuletzt“ bei ihr geblieben, aber schon in wenigen Stunden muss ich für meine Familie den Frühstückstisch de-cken und anschließend im Büro meine Akten bearbeiten, als ob nicht geschehen wäre…

Am Vormittag erfahre ich, dass Frau G. um sechs Uhr morgens gestorben ist. Sie sei friedlich eingeschlafen, sagt die Schwester am Telefon, friedlich eingeschlafen nach einer Nacht, durch die ich sie ein Stück begleiteten durfte.

Judith Weidl