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Predigt Pfarrer Dr. Givens vom 20.10.2024:Bei mir aber soll es nicht so sein

Bei mir aber soll es nicht so sein
Wenn jeder und jede von uns sagt: „Bei mir aber soll es nicht mehr so sein“ und für seinen Lebensbereich das einübt, dann kriegen wir das hin mit dem Umweltschutz.
Datum:
25. Okt. 2024
Von:
Ronald Givens

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

manchmal passieren einem im Leben kurz hintereinander zwei Dinge, die einen erst aufmerksam machen. So ging es mir in der vergangenen Woche.

Zunächst kam Gabi Krech und fragte mich, ob ich die Noten mit den Liedtexten für nächsten Sonntag haben möchte, wenn der Kirchenchor die Reinhard Mey Lieder singt. Voller Begeisterung erzählte sie, wie der Chor singt und wie immer mehr diese Lieder im Chor gewachsen sind. Dann bin ich heimgeradelt und begegnete Frau Busalt, die freudestrahlend die Treppe herunterkam und erzählte, sie hätte demnächst ein Konzert. Zum ersten Mal haben sie mit dem Orchester gemeinsam geübt, und das sei unglaublich, wie nach so vielen Wochen des Probens mit dem Orchester auf einmal alles klingt. Beide erzählten voller Begeisterung vom Singen, vom Chor und von den verschiedenen Konzerten, auf die sie sich vorbereiten. Bei euch aber soll es nicht so sein, sagt Jesus im Evangelium.

Ich will Ihnen von zwei Frauen erzählen, für die dieser Satz ganz wichtig geworden ist. Die eine hat eine Erfahrung gemacht, die kennen Sie alle. Die andere hat eine Erfahrung gemacht, bei der ich hoffe, dass Sie diese nie erlebt haben und nie erleben werden.

Die Eine ist in den Wirren des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen und war immer kränklich. Sie hat die Erfahrung gemacht, die wir alle kennen und teilen. Sie hat gemerkt, wie gut es tut, wenn jemand von ihren Geschwistern oder Mama oder Papa bei ihr am Bett sitzt. Einfach nur dasitzen. Die hatten keine Arznei, die hatten nichts zu bieten, aber diese Nähe, dieses "Ich bleibe bei dir, ich halte das aus, ich bin einfach da mit dir, mit dem, was ich habe, mit dem, was ich bin", das hat ihr über viele ihrer Ängste, über vieles Fieber und viele Krankheiten hinweg geholfen. Als junge Frau beschließt sie: "Ich will nichts Besonderes werden, ich will auch nichts Besonderes sein, ich möchte meine Nähe verschenken."

So beschließt sie, Gleichgesinnte zu suchen, und sie gründen die Gemeinschaft der kleinen Schwestern von Garnichts. Weil sie nichts haben, weil sie nichts besitzen, weil sie nichts sein wollen, setzen sich diese Schwestern irgendwo, wo der Krieg herrscht, mitten ins Kriegsgebiet, zu denen, die verzweifelt sind, und halten mit ihnen aus. Sie setzen sich dort, wo der Hass gepredigt wird, mitten in die Dörfer und halten das aus. Sie setzen sich in New York City in die U-Bahn neben die Obdachlosen, schenken ihre Nähe, schenken ihre Zeit und betteln einen Tag lang gemeinsam mit jenen, die dasitzen. Diese kleinen Schwestern von Garnichts, die Elisabeth Huger gegründet hat, haben für sich beschlossen: "Bei mir aber soll es nicht so sein. Ich werde nicht vorbeigehen, ich werde nicht übersehen. Ich möchte nichts Besonderes sein, ich möchte dir zeigen: Ich schenke dir meine Nähe, ich schenke dir meine Zeit, ich schenke dir etwas vom Kostbarsten, was ich habe: mein Leben. Ich bin nichts Besonderes. Ich bin ein Mensch wie du. Aber ich halte neben dir aus, ich bin da, damit du spürst, wie Gott ist."

Euch aber soll es nicht so sein. Das hat sie ein ganzes Leben lang durchbuchstabiert und immer wieder eingeübt: Hinzuschauen und hinzuhören und so für einen Menschen zumindest an einem Tag grundlegend etwas zu verändern.

Die andere Frau hat eine furchtbare Erfahrung gemacht. Sie ist in den letzten Jahren immer kränker geworden: Sie ist von einem Arzt zum nächsten gelaufen, ihre Kinder haben gefürchtet, dass sie dement wird. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Sie war völlig erschöpft, aber jeder Arzt, jedes Medikament, jede Therapie hat ihr nichts gebracht. Immer mehr ist sie verzweifelt, weil sie nicht wusste, wie es weitergehen soll. Eines Tages steht die französische Gendarmerie vor ihrer Tür. Sie öffnet und ist völlig entsetzt, als sie ihren Mann Dominique verhaften. Er hat mit dem Handy anderen Frauen im Supermarkt unter den Rock fotografiert und gefilmt. Bei der Hausdurchsuchung findet die Gendarmerie unglaublich viele Videobänder, die Dominique aufgenommen hat. Und auf all diesen Videobändern sieht man, wie er über viele Jahre hinweg seine Frau mit Medikamenten betäubt hat und anschließend vergewaltigt hat. Er hat ihr angeboten, mehr als 72 Männern im Internet zu erlauben, dass sie sie vergewaltigen dürfen, während er das filmt.

Sie hat sich scheiden lassen und dann beschlossen: "Bei mir aber soll es nicht so sein." Sie hat sich gesagt: "Die Scham muss die Seite wechseln." Sie hat darauf bestanden, dass dieser Prozess in Avignon öffentlich geführt wird. Sie hat darauf bestanden, dass alle diese Videos gezeigt werden und dass die Öffentlichkeit dabei ist. Sie hat darauf bestanden, dass sie anwesend ist, während diese Männer befragt und die Videos gezeigt werden. Weil sie gesagt hat: "Bei mir soll es nicht so sein, dass ich als Opfer mich zu Tode schäme, dass ich mich verstecken muss. Ich möchte, dass die Scham die Seite wechselt. Und für alle Frauen, denen Ähnliches angetan wird, nehme ich das auf mich, damit sich endlich etwas verändert, dass nicht die Opfer sich schämen, sondern dass die Täter sich schämen."

Es wäre wünschenswert, dass bei diesem Prozess in Avignon alle Priester, alle Imame, alle Rabbis, alle Bischöfe, einschließlich des Heiligen Vaters, im Gerichtssaal sitzen. Denn mit all ihren Koranzitaten, mit allen ihren Bibelzitaten, mit all ihren Tora-Zitaten, mit all ihren frommen Verlautbarungen haben sie über so viele Jahrhunderte hinweg Frauen sediert und ihnen erklärt, dass das so sein müsse. All diejenigen, die in unserer Gesellschaft immer noch das Wort reden, dass Frauen weniger wert sind, dass Frauen weniger können, dass Frauen weniger berufen sind, sollten dort in Avignon dabei sein. Die Scham muss die Seiten wechseln.

Bei euch aber soll es nicht so sein. Elisabeth Huger hat für sich beschlossen: "Bei mir soll es nicht so sein" und hat etwas verändert. Gisèle Pelicot hat in Avignon beschlossen: "Bei mir soll es nicht so sein" und hat etwas verändert.

Frauen und Männer im Kirchenchor haben lange geübt: Zeile um Zeile, bis die Reinhard Mey Lieder im Kopf waren. Das braucht es, dass jeder Einzelne sich einübt, bis am Ende das ganze Lied erklingen kann. Frau Busalt und die anderen im Chor haben geübt und gestaunt, als das Orchester da war, wie großartig das ist. Aber wie viel Zeit und Kraft steckt da drin, bis ein ganzer Raum erfüllt wird, bis eine ganze Kirche erfüllt wird und man sagt: "Wie wundervoll ist dieser Gesang."

Darauf hat Jesus vertraut. Wenn jeder und jede von uns sagt: "Bei mir aber soll es nicht mehr so sein" und für seinen Lebensbereich das einübt, dann kriegen wir das hin mit dem Umweltschutz.

"Bei mir aber soll es nicht so sein." Dann kriegen wir das hin mit dem Frieden.

"Bei mir aber soll es nicht so sein." Dann kriegen wir das hin mit den Schulden und der Zukunft der Jugend.

"Bei mir aber soll es nicht so sein."

Wenn wir warten auf die Großen und die Mächtigen, dann wird sich nichts tun. Aber wir brauchen Männer und Frauen, die an einem Punkt ihres Lebens sagen: "Bei mir aber soll es nicht mehr so sein, ich ändere etwas und ich vertraue darauf, dass Jesus recht hat, der es genauso gemacht hat." So wird die Welt verändert.

Amen.