Predigt Pfarrer Dr. Givens zum Ostersonntag am 20.04.2025:Das Grab liegt hinter uns

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn.
Womit soll man bei diesem Lied beginnen? Mit Jerusalem und der großen Sehnsucht, dass das tatsächlich einmal eine freie, eine befriedete Stadt ist? Oder von den Bildern, von denen der Chor gesungen hat: Dass dieses Jerusalem heller strahlt, dass es wie ein Himmel ist, dass die Tränen gesammelt sind?
Oder soll man lieber beginnen in Saintes-Maries-de-la-Mer, wo Maria von Magdala hingelaufen ist nach Südfrankreich? Oder bei einer Frau mit ihren Stofftieren? Oder beginnen mit einer Beichte auf dem Sterbebett? Man könnte auch mit Teddy Kollek beginnen, dem Bürgermeister von Jerusalem, oder mit einem Festival.
So viel gäbe es zu diesem Lied, zu „Ihr Mächtigen, ich will nicht singen“ zu erzählen. Ich will beginnen mit der Frau und ihren Stofftieren:
Normalerweise, wenn die Schwestern ihr Zimmer betreten haben, hat sie sich zu ihren Stofftieren zurückgezogen: Zu einer rosa Schildkröte, einem Einhorn, einem Teddybären, einem Papagei, und über ihr hingen die Bilder ihres Lebens.
Doch plötzlich saß sie aufrecht im Bett, auf der Bettkante, so als wollte sie aufstehen, obwohl das unmöglich war. Sie hatte sich abgewandt von ihren Stofftieren, und als man sie fragte, warum sie denn da sitze, da sagte sie: "Mein Herrgott ruft mich, mein Herrgott ruft mich." So sitzt sie und hört, was außer ihr niemand hört.
Auch auf einem Sterbebett, aber einem ganz anderen, bekennt Naomi Shemer, die das Original dieses Liedes geschrieben hat, dass es ein Diebstahl gewesen ist. Es war nicht ihre eigene Erfindung, obwohl sie mit diesem Lied ihre größten Erfolge gefeiert hat. Jetzt, auf dem Sterbebett, da will sie die Dinge in Ordnung bringen und bekennt:
„Es ist ein baskisches Wiegenlied, ich habe es als junges Mädchen zum ersten Mal gehört und mich nie getraut zu sagen, dass es eigentlich nicht von mir geschrieben ist. Ich habe es einfach aufgeschnappt und mir zu eigen gemacht.“
Sie hat es geschrieben, als Teddy Kollek Bürgermeister von Jerusalem und Jerusalem noch eine geteilte Stadt war, so geteilt war wie Deutschland, Berlin oder Korea.
Da bat er sie: „Schreib ein Lied, das uns Hoffnung gibt. Vielleicht gelingt es, dass diese Stadt, die dreimal heilig ist - heilig ist für die Juden, heilig ist für die Moslems und heilig ist für die Christen - vielleicht wirklich einmal die Mutter für alle wird.“
Diese Stadt, die so oft wie keine andere Stadt der Welt zerstört worden ist. Und da schreibt Naomi Schemer dieses Lied. In 300 verschiedenen Varianten gibt es seither dieses Lied, und die Version, die wir gehört haben, hat natürlich auch ihre eigene Geschichte:
Eine Pfarrfrau, Ehefrau eines evangelischen Pfarrers, hört dieses Lied. Ganz oft hat sie schon die Predigten für ihren Mann oder Lieder für die Gemeinde geschrieben, aber damals durften Frauen auch in der evangelischen Kirche noch nicht Pfarrerin sein und verkünden. Da schreibt sie dieses Lied, und es wird zum Erfolg.
Als es möglich ist, dass endlich auch Frauen Pfarrerin werden können, zögert sie keinen Augenblick und erzählt, jetzt als Pfarrerin der evangelischen Kirche in Düsseldorf, wie dieses Lied sie berührt hat und ihr Hoffnung gegeben hat, dass es einmal soweit sein wird, dass sie verkünden darf. Dass sie das, was von Anfang an ihr Herz erfüllt und was sie von diesem Jesus erfahren hat, hinaustragen darf, so wie Maria von Magdala.
Denn sie, Maria von Magdala, läuft an diesem Morgen nicht nur zu den Jüngern und verkündet ihnen: "Ich habe den Herrn gesehen, er ist auferstanden!“. Sie, die Frau, die am Grab ausgehalten hat, läuft nicht nur nach Jerusalem. Sie läuft bis nach Südfrankreich, bis Saintes-Maries-de-la-Mer, so sagt es die Legende, und wird dort zur Patronin der Sklaven und Sklavinnen, zur Patronin der Zigeuner, zur Patronin all derer, die man am liebsten hinausschieben möchte, weit weg aus den Städten hinaus.
Sie kann laufen, sie hat diesen Mut zu laufen, weil Maria von Magdala das Grab hinter sich hat. Sie hat in das Grab hineingeschaut, sie hat die Dunkelheit des Grabes gesehen, aber seit dem Augenblick, wo Jesus sie mit Namen ruft und sagt "Maria!“, seit diesem Augenblick hat sie das Grab hinter sich und nicht mehr vor sich - so wie die Frau im Hospiz auf dem Bett, die hinter sich die Stofftiere hat, die Fülle ihres Lebens.
Jedes einzelne könnte etwas erzählen von den Höhen und Tiefen ihres Lebens und von ihr, die jetzt auf der Bettkante sitzt und sagt: "Mein Herrgott ruft mich."
Diese Frau hat nicht das Grab vor, sondern hinter sich, weil sie weiß: Der Herrgott Gott ruft mich, und er führt mich und er ruft mich durch die Dunkelheit des Todes hindurch.
Und darum kann Maria von Magdala hineinlaufen nach Jerusalem, in diese Stadt, wo seit jeher darum gekämpft wird, wer Recht hat, wer schneller ist als der andere, wen Gott mehr liebt als der andere - so wie auch Petrus und Johannes auf allerpeinlichste Weise deutlich machen, um was es manchmal geht: Wer Erster ist, wer zuerst glaubt, wer besser und wer schneller ist.
Dabei kommt es darauf an auszuhalten, durchzuhalten, zu warten, bis das Herz bereit ist zu sagen: Jetzt kann ich mich auf den Weg machen, jetzt kann ich diese Situation annehmen!
So wie Maria von Magdala sich auf den Weg machen konnte und laufen konnte, um zu erzählen, was ihr Herz erfüllt. So wie die evangelische Pfarrfrau zur Pfarrerin wurde und erzählen konnte, wie sehr sie Jesus liebt und welche Hoffnung sie hat für alle, denen man nicht zutraut, dass sie laufen. So wie Petrus und Johannes am Ende kapiert haben: Das Grab liegt hinter uns.
Wer einmal hineingeschaut hat und glauben kann, dass der, der ins Grab hineingelegt wurde, tatsächlich lebt, muss keine Angst mehr haben vor der Dunkelheit des Grabes.
So wie dieses Lied, das so oft gesungen wird und davon erzählt:
Jerusalem braucht Menschen, die da hineinlaufen und daran glauben, dass es möglich ist, miteinander eine Stadt aufzubauen, in der Tränen heilig sind. In der die Schwachen durch goldene Gassen laufen dürfen. In der diejenigen, die mutlos und sterbensmüde geworden sind, von Gott selbst genährt und getränkt werden.
Es braucht diejenigen, die wie Maria von Magdala sagen: „Ich habe den Herrn gehört, und er hat mir Mut gemacht!“
Unsere Welt ist voll von denen, die Wettläufe veranstalten. Die stärker und besser sind. Es braucht so viele andere, die den Mut haben zu sagen: „Ich habe das Grab hinter mir, und darum kann ich dem Leben dienen ohne Angst.“
Amen.