Predigt Pfarrer Dr. Givens am 26.12.2024:Das ist mir heilig!?
Der Engel des Herrn, auf Französisch gesungen, gewünscht von ganz vielen, die bis dahin gar nicht wussten, was das für ein Gebet ist, wenn bei uns um 12:00 Uhr die Glocken läuten und Der Engel des Herrn gebetet wird.
Aber die, die sich das gewünscht haben, die haben sich daran erinnert, wie es war: An den April 2019, als ihre Notre-Dame, ihre Kirche gebrannt hat. Da haben sich die Feuerwehrleute daran erinnert, dass unter den Tausenden von Schaulustigen, die da an der Seine standen und nicht fassen konnten, dass ihre Kirche brennt, ganz viele gewesen sind, die dieses Lied gesungen haben, dass wir gehört haben. Den Engel des Herrn gesungen haben, um denen, die versucht haben Notre-Dame zu retten, Mut zu machen.
Es war der Wunsch von den Feuerwehrleuten, dass dieses Lied gesungen werden soll bei der Eröffnung von Notre-Dame, und die die es gesungen haben, dieses Wunschlied, waren eine illustre Mischung: Atheisten und Christen. Muslime und Buddhisten. Pied-noir, früher Schwarzfüßler genannt, und weiße Franzosen. Menschen von überall her haben dieses Lied gesungen, weil sie gemerkt haben: Die Arbeit an der Kathedrale, die Arbeit in diesen 5 Jahren, die Kirche wieder aufzubauen, hat sie verändert.
Ganz vielen von denen, die dort in Notre-Dame gearbeitet haben, die sich längst verabschiedet haben von ihrer Taufe und ihrem Glauben, haben in der Arbeit von Notre-Dame neu zum Glauben hingefunden. Haben gefragt: „Was glaubt ihr denn eigentlich, ihr Christen, was ist euch heilig und was ist euch wichtig?“ Und weil ihnen die Arbeit zu wenig gewesen ist, haben sie miteinander einen Chor gebildet. Da sangen dann in diesem Chor der Handwerker von Notre-Dame Christen und Atheisten, Muslime und Buddhisten, Evangelische und Katholische, streng Gläubige und solche, die auf der Suche waren.
Notre-Dame hat sie verändert, und es lohnt sich, in der Mediathek von 3sat einen Spielfilm anzuschauen, in dem ein paar ganz wichtige Momente, die tatsächlich so in dieser Nacht, in der sie gebrannt hat, passiert sind, gezeigt werden. Da ist zunächst der Kurator von Notre-Dame, der unbedingt in diese brennende Kirche hineinwill, sich nicht abhalten lässt, obwohl es völlig wahnsinnig ist. Das Dach ist teilweise eingestürzt, Steine fallen herunter, und mitten in diese brennende Kirche will er hinein, um die Dornenkrone Jesu zu retten. Alle schütteln den Kopf: Glaubt er denn wirklich, dass das die Tonnen Krone Jesu ist? Dafür lohnt es sich, in die Flammen zu laufen?
Die Feuerwehrleute sind beeindruckt, dass er sich nicht abhalten lässt und wie er Zeugnis davon ablegt: Es gibt Dinge, die der Verstand nicht begreift, aber - sie sind heilig. Es gibt Dinge, da können wir alle den Kopf schütteln, aber - sie sind uns heilig. Wer hat das nicht in seiner Familie? Dinge, die uns heilig geworden sind, Dinge, die wir aufbewahren und aufheben, weil sie uns an so viel erinnern und uns so viel bedeuten. Da mögen alle anderen über diesen Kitsch den Kopf schütteln - aber es braucht diese Menschen, die Zeugnis ablegen: ,Das ist mir heilig.‘ ,Das gebe ich nicht einfach auf.‘ ,Das ist mir wichtig.‘ ,Das ist für mich ein Wert.‘
In Notre-Dame ist nicht nur der Kurator, der da die Dornenkrone herausrettet und Zeugnis ablegt vor den Feuerwehrleuten. Da kommt auf einmal einer von den Feuerwehrleuten, aus Pakistan, der sich zum Glauben bekehrt hat, und marschiert in diese Kirche hinein. Die anderen wollen ihn abhalten, aber er läuft hinein, um die Hostien aus dem Tabernakel zu holen. Das ist ihm heilig, das ist ihm wichtig, das ist für ihn nicht einfach irgendein Stück Brot, das verbrennen kann, sondern seine tägliche Nahrung, seine Hoffnung, das ist eben sein Glauben.
Für viele ist es keine Folklore und nicht einfach nur Tradition, an Weihnachten Gottesdienst zu feiern und zu sagen: ,Ich hätte die schwierigen Baustellen meines Lebens nicht bewältigt ohne dieses Brot.‘ ,Ich hätte diesen Menschen nicht begleiten können ohne dieses Brot.‘ ,Ich kann meinen Alltag nicht bestreiten ohne dieses Heilige Brot.‘
Viele mögen vielleicht staunen, gerade bei den großen Gottesdiensten, wenn wir ganz selbstverständlich aufstehen, hingehen und sagen: „Ich brauch dieses Brot. Das ist mir heilig, das ist mir wichtig.“ Wie viele werden in den Bänken sitzen bleiben, weil sie damit nichts anfangen können, gerade bei den ganz großen Gottesdiensten, und staunen, welches Zeugnis wir ablegen, wenn wir sagen: „Aber mir ist dieses Brot heilig und wichtig, und darum gehe ich hin, um es zu empfangen.“
Und dann gibt es eine Szene, da ist Notre-Dame verloren. Es ist klar, dass sie nicht mehr zu retten ist, das Blei schmilzt und tropft lebensgefährlich herunter. Nur noch die beiden Haupttürme stehen, und wenn sie fallen, fällt ganz Notre-Dame. Der Kommandeur bringt es aufs Wort, er sagt: „Für Menschen riskieren wir unser Leben, aber nicht für ein Gebäude, auch wenn es nur Notre-Dame ist. Notre-Dame ist verloren.“
Da kommt einer, das ist eine wahre Geschichte, der tritt nach vorn und sagt: „Mir ist diese Kirche heilig und wichtig. Mir bedeutet Notre-Dame ganz viel. Ich bitte um die Erlaubnis, freiwillig hineinzugehen und zu versuchen, die Türme zu retten.“ Er bekommt die Erlaubnis, fünf andere melden sich ebenfalls, um mit ihm hineinzugehen, und sie gehen hinauf. Es ist eigentlich unmöglich, doch dann hören sie vom Seine-Ufer dieses Lied, das wir gerade eben gehört haben, dieses Gebet, diesen Engel des Herrn - und sie wissen, dass sie nicht allein sind. Da sind andere, die beten für Sie, die sehen ihre Lichter dort oben in den Türmen. Sie sind nicht allein, sie werden begleitet.
Was für ein Zeugnis ist das, einem Kind zu sagen: „Ich zünde für dich eine Kerze! Ich bete für dich.“
Was für ein Zeugnis ist es, unter einen Weihnachtsgruß zu schreiben: Ich wünsche dir gesegnete Weihnacht. Ich bete für dich. Ich habe dich nicht vergessen.
Es sind so viele kleine und große Zeugnisse, von denen wir gar nicht wissen, wo sie wirken. Das hätten die, die da an der Seine gesungen und gebetet haben, sich nie träumen lassen, dass es das war, was diese Feuerwehrleute bewegt hat, nicht aufzugeben. Stephanus ruft, als er in die Knie geht: „Ich sehe den Himmel offen und Jesus zur Rechten.“ Er legt Zeugnis davon ab, dass der Himmel offen ist. Und nun schauen Sie sich um: Was kostet es diese Gemeinde auch an Kraft, diese große Kirche mitten in der Stadt für alle zu erhalten und zu sagen „Wir halten den Himmel offen. Wir schenken dieser Stadt einen so großen und großartigen Raum, damit geglaubt werden kann, dass der Himmel offen ist.“?
Viele sind davongelaufen, und auch deswegen haben wir nicht die Kraft, alle Kirchen zu erhalten. Wir setzen alle Kraft daran, und der Förderverein, Frau Arnold und der Verwaltungsrat können ein Zeugnis davon ablegen, was uns das auch wert ist, diesen Raum dieser Stadt zu schenken und zu sagen: „Wir legen Zeugnis ab für das, was uns heilig und wichtig ist.“
Sie alle werden das in Ihrem Leben durchbuchstabieren können - dass sie immer und immer wieder Zeugnis davon ablegen: ,Das ist mir heilig!‘ ,Diese Werte gebe ich nicht auf!‘ ,Da laufe ich nicht davon!‘ ‚Dafür gehe ich durchs Feuer!‘ ,Dafür stehe ich ein!‘ Und wir alle wissen nicht, wo Menschen sehen, dass wir Zeugnis davon ablegen, dass der Himmel offen ist.
Aber am Stephanustag schauen wir dankbar hin auf die Menschen, die für uns Zeugnis abgelegt haben, und darum glauben wir und bitten darum, dass wir Zeugnisgeber sind - auch dort, wo wir es nicht ahnen.
Amen.