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Predigt Pfarrer Dr. Givens am Sonntag, 16.11.2025:Den Sprung wagen

Den Sprung wagen
Das Kreuz erinnert uns daran, dass Jesus den großen Sprung ins Unbekannte gewagt hat – und dass er an Ostern nicht heillos untergegangen ist, sondern dass er aufgetaucht ist als der Lebende.
Datum:
17. Nov. 2025
Von:
Herbert Kohl

Für Gott Platz lassen im Leben

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

es ist das Jahr 1968. Es ist ein heißer Sommer. Die Amalfiküste liegt strahlend blau da. Kaum Touristen sind damals noch unterwegs. Italien von seiner allerschönsten Seite. 

Da steigt eine Gruppe von Archäologen in ein dunkles Grab hinab. Drinnen ist nichts mehr von der süditalienischen Sommerhitze zu spüren. Und dann entdecken sie etwas Unglaubliches: Grabmalereien an den Wänden und in der innersten Kammer eine kleine Platte.

Auf dieser Grabplatte ist ein Turm gemalt. Und oben auf dem Turm sieht man, wie ein junger Mann den Sprung wagt – und unter ihm das Wasser. Diese Grabplatte mit diesem jungen Mann, der gerade losspringt ins Wasser, ins Unbekannte hinein, heißt deswegen auch Das Grab des Tauchers. 480 vor Christus ist dieses Bild entstanden, von dem, der da ins Ungewisse hineinspringt.

Die Archäologen und die Forscher waren sich schnell einig: Das ist – in einem Grab – ein Hinweis darauf, dass da einer ins Unbekannte hineinspringt. Der Tod als Sprung ins Ungewisse, ins Dunkle. Und nicht wissend: Werde ich da wieder auftauchen? Wie werde ich wieder auftauchen? Was wird es sein, wenn ich diesen Sprung vom Leben gewagt habe?

Professor Hölscher von der Universität in Heidelberg ist anderer Ansicht. Er sagt: Es kann schon sein, dass dargestellt ist, wie man sich diesen Sprung hinein durch den Tod in das Unbekannte vorgestellt hat. Es könnte aber auch sein, dass es ein junger Mensch gewesen ist, der da dargestellt ist – so wie ihr.

An der Grenze zum Erwachsenwerden. Dieser Sprung hinein ins Erwachsenenleben, hinein in eine ganz andere Welt, in eine ganz andere Verantwortung, in ein ganz anderes Lebensgefühl. Nicht mehr als Kind, nicht mehr als Jugendlicher, sondern jetzt als Erwachsener aufzutauchen und zu schauen: Was heißt das? Was bedeutet das jetzt für mich?

Eine eigene Wohnung zu haben, sich von daheim zu lösen, eigene Wege zu gehen. Wie auch immer man das interpretiert – die meisten von Ihnen kennen das. Wenn man ein Kind bekommt, dann taucht man als Eltern anders auf als vor der Schwangerschaft. Das verändert alles. Wenn man geliebt wird und sich verliebt, dann taucht man als ein ganz anderer auf, als eine andere, als man davor gewesen ist.

Wenn man eine Diagnose bekommt, wenn man zum ersten Mal ins MRT hineingeschoben wird, wenn man ins Arztgespräch hineingeht, dann taucht man als ein anderer auf, als der man hineingegangen ist.

Wenn die dementen Eltern zum dritten Mal das Bett vollgemacht haben, dann weiß man nicht, ob man das schafft, diesen Sprung in ein ganz neues, anderes Leben. Dann weiß man nicht, ob man da durchkommt, ob man das aushält.

Und so gibt es auch ganz viele dunkle Situationen, wo vor uns – wie dieses Wasser vor dem jungen Mann – das Unbekannte ist und ich nicht weiß, was passiert, wenn ich jetzt merke, dass mein altes Leben nicht mehr funktioniert.

Weil ich Witwe oder Witwer geworden bin. Weil jemand ganz Wichtiges aus meinem Leben fehlt. Weil ich auf einmal mit der Pflege, mit Demenz, mit Krankheit konfrontiert bin und nicht weiß, wie das gehen soll.

Die Grabplatte in Paestum, im Grab des Tauchers, bringt so viele frohe und so viele schwierige Situationen ins Bild, in denen wir angefragt sind: Wage ich den Sprung? Wage ich diesen Sprung ins Ungewisse? Traue ich es mir zu, traue ich es dem Leben zu, dass ich auch wieder auftauche – dass ich nicht heillos untergehe?

Wenn diese Situation in eurem Leben kommt, wenn kein Stein auf dem anderen bleibt, wenn all das, was ihr an Weihegeschenken, was ihr an Sicherheiten im Haus eures Lebens aufgebaut habt, abgeräumt wird, wenn das alles nicht mehr da ist, weil die Lebenssituation so ganz anders ist – dann vertraut mir.

Dann nehmt euch nicht im Voraus vor, dass ihr schon wisst, wie ihr auftauchen werdet. Dann nehmt euch nicht im Voraus vor, dass ihr schon wisst, wie ihr mit eurem Sohn oder eurer Tochter reden werdet, wenn die nach Hause kommen und alles schiefgegangen ist.

Dann nehmt euch vor, dass ihr nicht schon ins Arztgespräch hineingeht und die Diagnose wisst. Dann nehmt euch vor, dass ihr nichts wisst, dass ihr offen bleibt.

Dass da ein Rest in eurem Herzen ist, der sich überraschen lässt, der es zutraut, dass jenseits eures Planens, jenseits eurer Vorstellungen, jenseits von all dem, was für euch denkbar ist, ich selbst – mit meiner ganzen Liebe, mit meiner ganzen Weisheit, mit meinem ganzen Himmel – euch helfen werde, dass ihr nicht heillos untergeht, sondern dass ihr auftaucht.

Dass ihr anders weiterleben werdet. Dass ihr nie vergessen werdet, wie das war vor dem Sprung, aber dass ihr leben werdet mit meiner Kraft und mit all dem, was euch den Mut gegeben hat zum Springen.

Denn wenn wir ehrlich sind: Wir springen ein ganzes Leben lang. Nicht erst, wenn die große Katastrophe kommt. Nicht erst, wenn das ganz Schwierige kommt, springen wir. Wir sind schon oft gesprungen im Leben – und wussten nicht: Wie tauche ich da wieder auf? Wie komme ich aus dieser Situation heraus? Werde ich das schaffen? Werde ich da durchkommen?

Und wenn wir ehrlich sind – und das hoffe ich –, dann gibt es einen ganzen Schatz an Erfahrungen, der uns sagt:

Ich habe das geschafft.
Ich bin Mutter oder Vater geworden.
Ich habe das geschafft, dass ich diese Krankheit überstanden habe.
Ich habe das geschafft, dass ich zum ersten Mal meine Wäsche selber gewaschen habe, dass ich zum ersten Mal selber geschaut habe: Wie komme ich durchs Leben?
Ich habe das geschafft, dass ich mich lieben ließ und dass ich geliebt habe.

Nicht erst, wenn es hart auf hart kommt, wenn der ganz große Sprung kommt, wenn wir einmal in der Intensivstation liegen und merken: Ich muss das Leben loslassen – nicht erst dann kommt der große Sprung ins Ungewisse hinein, in der Hoffnung, dass wir auftauchen im ewigen Leben. Sondern wir üben das ein ganzes Leben lang ein.

Und darum sind wir alle gefirmt. Darum wird uns auf die Stirn geschrieben: Lass in deinem Denken mindestens so viel Platz, dass Jesus dich überraschen kann.

Lass in deinen Vorstellungen von deinen Kindern, von deinem Partner oder deiner Partnerin, in deinen Vorstellungen, wie das Leben weitergeht, mindestens so viel Platz, dass das Leben dich ganz anders führen kann. Dass ich, dein Gott, dich ganz anders führen kann.

Wenn kein Stein auf dem anderen bleibt, wenn ihr in Situationen hineingeschleppt, vor Situationen gestellt werdet, dann nehmt euch vor, dass ihr nicht schon im Voraus wisst, wie ihr da rauskommt.

Sondern dann werde ich meinen Geist euch geben. Dann lege ich meine Weisheit in euer Herz. Dann verspreche ich euch:
dass ihr auftauchen werdet, dass ihr nicht heillos untergehen werdet. Denn das ist der tiefste Sinn, dass wir jeden Gottesdienst damit beginnen, dass wir uns bekreuzigen.

Das Kreuz erinnert uns daran, dass Jesus den großen Sprung ins Unbekannte gewagt hat – und dass er an Ostern nicht heillos untergegangen ist, sondern dass er aufgetaucht ist als der Lebende.

Als der, der weiß, wie viel Angst man vor diesem großen Sprung hat.
Der weiß, wie man weinen und zittern kann vor dem Neuen, das da kommt.
Der weiß, dass es alles andere als einfach ist, sich von der Sicherheit abzustoßen und ins Unbekannte hineinzuspringen.

Aber der Mensch geworden ist, um uns vorzuleben: Mit Gottes Kraft und mit Gottes Hilfe wirst du nicht heillos untergehen, sondern du wirst als ein anderer, als eine andere im Leben stehen.

Amen.