Predigt Pfarrer Dr. Givens am 22.12.2024:Einüben, Wunder zu sehen
Liebe Schwestern und Brüder im Herrn.
Wie sehr habe ich ihn gehasst. Dabei kam er eigentlich so daher, dass er gar nicht zum Hassen war. Aber… ich habe ihn wirklich gehasst.
Er lag schön verpackt unter dem Weihnachtsbaum, und als ich ihn ausgepackt habe, da habe ich ihnen vom ersten Augenblick an gehasst: Einen neuen Schulranzen. Wunderschön, aus Leder, die Seiten mit Holz verstärkt, mit 2 Lederriemen. Ich habe ihn gehasst, denn alle meine Klassenkameradinnen und -kameraden hatten bunte, praktische und schöne Schulranzen, und ich hatte diesen blöden aus Leder, häßlich, unpraktisch und einfach nur doof. Wann immer ich Heim gekommen bin, da habe ich ihn einfach in die Ecke gekickt, auch wenn ihm das nicht viel ausgemacht hat.
In der Schule habe ich ihnen liebsten versteckt, und auf dem Rücken habe ich ihn sowieso nie getragen, dieses unbequeme, hässliche Ding. Doch eines Tages, da musste ich noch ganz schnell den Bus erreichen, habe ich ihn halt auf den Rücken gepackt und bin losgerannt mit diesem hässlichen Rucksack, über die Straße. In dem Augenblick kam der Bus von der anderen Seite und ich geriet unter den Bus, ich wurde vom Bus überfahren.
Aber der Rucksack auf meinem Rücken verhinderte, dass ich wirklich überfahren wurde. Es schleuderte mich unter dem Bus, aber ich kroch unter dem Bus hervor, weil der Schulranzen mich gerettet hatte. Ein Wunder, dass mir nicht mehr passiert ist.
Den Rucksack habe ich deswegen nicht mehr geliebt, aber ich bin überzeugt: Sie alle können von solchen Wundern erzählen. Ich glaube daran, es gibt kein Leben ohne Wunder. Das muss nicht immer so spektakulär sein, aber dass man noch einmal liebt, obwohl man ganz tief enttäuscht worden ist, ist ein Wunder. Dass man noch viel mehr Leben geschenkt bekommen hat, als die Diagnose einem zugesprochen hat, ist ein Wunder. Dass man einen Menschen gefunden hat, der einen liebt, mit dem man durchs Leben geht, ist ein Wunder.
Die meisten Wunder meines Lebens, die habe ich bis jetzt im Hospiz erlebt. Dort, wo das Leben eigentlich unweigerlich zu Ende geht - da habe ich die größten Wunder erlebt. Wunder der Versöhnung. Wunder des Glaubens. Die Wunder des Loslassens. Im Evangelium haben wir von 2 Wundern gehört:
Da ist Maria, die sich nur wundern konnte, dass Josef, dieser Gerechte und Fromme, sie nicht der Steinigung auslieferte, sie nicht bloßstellte, sondern dass er sagt: „Natürlich Maria, das schaffen wir, das kriegen wir hin. Komm du mit deinem Kind zu mir. Ich geb ihm den Namen Jesus, wir schaffen das miteinander!“ Es muss für Maria wunderbar gewesen sein, dass Josef so ganz anders gehandelt, als es zu erwarten gewesen ist.
Oder Elisabeth, die immer nur gehört hat: „Irgendwas muss in deinem Leben falsch sein, irgendwas müssen du oder Zacharias falsch gemacht haben, dass ihr so gestraft werdet und kein Kind bekommt.“ Elisabeth kann das gar nicht fassen. Und darum spricht Elisabeth den Satz, den Wir auf alle Engel geschrieben haben, Maria zu: „,Gesegnet bist du!‘ Wir beide haben ein Wunder erlebt.“
Und wenn sie sich heute Abend vielleicht einmal an der Bettkante hinsetzen und überlegen, dann werden sie ganz sicher feststellen: Ich hab Wunder erlebt. Aber wir alle wissen: Es gibt nicht unendlich viele Wunder. Und Wunder können auch nicht erzwungen werden. Sie können erbeten werden, aber ob das Wunder kommt, das liegt nicht in unseren Händen, das können wir nicht erzwingen.
Maria und Elisabeth machen auch diese Erfahrung, dass das Wunder auch ausbleiben kann. Was glauben Sie, wie Maria um ihren jungen Sohn mit 33 Jahren im Hof des Pontius Pilatus gebetet hat, dass es anders ausgeht - dass er nicht verurteilt wird, dass er nicht ans Kreuz geschlagen wird. Was glauben Sie, wie die den Himmel bestürmt hat, dass noch einmal ein Wunder geschieht? Sie musste es aushalten, dass das Wunder nicht kommt.
Und Elisabeth? Johannes war noch viel jünger als Jesus, als er von Herodes hingerichtet wird. Auch Elisabeth musste erleben: Das Wunder kann man nicht erzwingen.
Wie viele von ihnen sitzen hier und wissen: Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass dieser Mensch, den ich so liebe, noch etwas mehr Zeit geschenkt bekommen hätte. Ich hätte mir gewünscht, dass diese Geschichte anders ausgeht. Ich hätte mir gewünscht, dass unsere Ehe hält, ich hätte mir gewünscht, dass ich noch einmal lieben kann. Es gibt so vieles, wo wir erleben: Das Wunder bleibt aus. So wie in Magdeburg. Die einen, die in dieser Nacht gesagt haben: „Ich habe ein Wunder erlebt, es hat mich nicht getroffen!“ Und die anderen, die um ihre Gesundheit, um ihr Leben gebracht worden sind, mit traumatischen Bildern leben müssen, die das Wunder eben nicht erlebt haben.
Und darum steht dieser Engel dort beim Kreuz. Es ist der Engel, den die katholische Drachenbücherei gestaltet hat. Da hat jemand seine Bibel, die heilige Schrift, das Wort Gottes, scheinbar nicht mehr gebraucht und in die Kiste geworfen für die Bücher, die vielleicht noch in der Drachenbücherei Verwendung finden könnten. Da lag sie nun, die ausgediente heilige Schrift. Frau Stimpel und ihr Team haben sich dann hingesetzt und aus der heiligen Schrift Sterne ausgeschnitten. Wenn sie ganz nah an den Engel gehen, dann sehen Sie: Jeder Stern ist ein Schriftwort.
Denn die Bibel erzählt von der ersten bis zur letzten Seite von den Wundern Gottes. Die Bibel ist aufgeschrieben worden, weil Menschen gesagt haben: „Das, was ich erlebt habe, das ist nicht selbstverständlich. Das kann man nicht einfach nur erklären mit Chemie, Physik und Biologie.“ Und da zeigt sich für mich auch das Wunder. Die Bibel ist voller Wunder. Sie erzählt davon, dass Menschen erlebt haben: Ja, es gibt Wunder in meinem Leben. Und dass Menschen auch ausgehalten haben, dass das letzte, größte Wunder, das Wunder, um das ich gebetet habe, ausgeblieben ist.
Und sie berichtet davon, dass Gott am Ende sagt: Wundere dich nicht, dass nicht die Dunkelheit, nicht der Tod das letzte Wort hat, sondern das Licht der Auferstehung - das ist das größte Wunder. Auf dieses Wunder gilt es sich vorzubereiten, ein ganzes Leben lang - indem wir die Wunder unseres Lebens nicht übersehen und überhören, nicht kleinreden, sondern immer wieder hinschauen und sagen: Ja, mitten in diese Krankheit, mitten in dieser Auseinandersetzung, mitten in diesem Verlust, mitten in dieser Trauer habe ich auch Wunder erlebt. Die will ich mir bewahren. Die will ich nicht achtlos zur Seite werfen, sondern sie sind der Schatz meines Lebens.
Man muss einüben, die Wunder zu sehen.
Im Evangelium, da hat es geheißen: Als Maria und Elisabeth sich begegnen, da hüpfte das Kind im Leib der Elisabeth. Ich habe nicht viel Ahnung von Schwangerschaft, aber wenn so ein Kind strampelt im Bauch, dann tut es meistens weh. Johannes hat da kräftig gestrampelt im Bauch der Elisabeth, dass sie das gespürt hat. Aber was sagt Elisabeth danach? Nicht: „Das hat weh getan.“ Nicht: „Der hat gestrampelt.“, sondern sie sagt: „Das Kind hüpfte vor Freude in meinem Leib!“
So übt man sich in Wunder ein. Zu spüren, wie gut tut es, dass da Leben ist. Ich will es mit Freude empfangen. Es gibt Wunder. Es gibt nicht unendlich viele Wunder, aber es gibt Wunder. Und wir sind eingeladen, sie zu sehen und zu bewahren.
Amen.