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Predigt Pfarrer Givens 21. Juli 2024:Gegen die Beugung des Rechts

Standhaft bleiben
Das Lebensbeispiel von Helmut James Graf von Moltke
Datum:
22. Juli 2024
Von:
Herbert Kohl

Standhaft bleiben

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

nach dem Vater unser, bevor wir das Allerheiligste empfangen, bevor wir das Brot des Lebens empfangen, werden wir alle einander den Friedensgruß geben. Der polnische Ministerpräsident Morajewski und Helmut Kohl haben sich lange überlegt, mit welcher Geste sie deutlich machen wollen, dass Deutschland und Polen Versöhnung geschenkt bekommen haben. Diese Versöhnung ist nicht nur ein Werk von Menschen, sondern auch ein Geschenk Gottes. Zum fünfzigsten Jahrestag nach dem Zweiten Weltkrieg vereinbarten die beiden, sich zu einem Gottesdienst zu treffen, zu einer Eucharistiefeier. Der Höhepunkt dieser Eucharistiefeier sollte sein, dass Helmut Kohl und Morajewski sich den Friedensgruß reichen, stellvertretend für ihre Länder und Völker. Damit wollten sie deutlich machen, dass diese Versöhnung auch von Gott kommt. Menschen haben hart für diesen Frieden und diese Versöhnung gearbeitet, aber es ist auch ein Geschenk Gottes.

Und dann kommt alles 1989 ganz anders. Helmut Kohl ist schon in Polen, da muss er schleunigst zurückfliegen nach Berlin, denn die Mauer ist gefallen. Dennoch hält man an der Messe und dem Gottesdienst fest. Helmut Kohl fliegt nach den Bildern im vereinten und freien Berlin direkt wieder zurück nach Polen, um mit Morajewski Eucharistie zu feiern. Beide sind überzeugte Katholiken und überzeugt, dass es jetzt umso wichtiger ist, sich den Friedensgruß zu geben. Sie wollen in einer völlig veränderten politischen Situation deutlich machen, woraus sie leben und was sie stark macht. Dies tun sie nicht irgendwo, nicht in Warschau, nicht in Krakau, sondern in Niederschlesien, auf dem Gut Kreisau.

Dort hat Helmuth James von Moltke wenige Jahre zuvor mit seiner Frau Freya von Moltke einen Kreis aufgebaut, den Kreisauer Kreis. Moltke und seine Frau, tief verwurzelt im protestantischen Glauben und sehr bewusst lebend aus ihrer Konfirmation, sammeln um sich einen Kreis von Menschen, die über den Tag, die Stunde, den Moment hinausdenken. Sie sagen, wir müssen jetzt anfangen zu denken, was wir machen, wenn es den Nationalsozialismus nicht mehr gibt. Wenn die braune Brut nicht mehr regiert, denn beide waren fest davon überzeugt: Wer so das Recht beugt, wer sich so über alles hinwegsetzt, was Deutschland einmal groß gemacht hat, das Christentum und die Klassik, wer so wenig Ahnung hat von Europa und wie Europa geworden ist, der wird keinen Bestand haben. Wer das Recht beugt, wer die Majestät des Rechts beugt, der kann nicht bleiben. Aber es braucht jetzt schon Menschen, die sich Gedanken machen, wie wir danach zusammenleben wollen. Was ist uns heilig und was ist uns wichtig? Was wird sein, wenn Adolf Hitler nicht mehr da ist?

Es war ein Zufall, dass Helmuth James von Moltke seine Freya kennengelernt hat. Sie war aus Südafrika, dort groß geworden, der Vater Rechtsanwalt und Völkeranwalt. Sie macht einen Bildungsurlaub in Deutschland und sucht eine günstige Unterkunft. Die von Moltkes sind verarmter schlesischer Landadel und müssen Zimmer vermieten im Sommer. So kommt die junge Freya zu ihnen. Die beiden lernen sich kennen, verlieben sich und beschließen, miteinander zu heiraten. Endlich weiß Helmuth James von Moltke, was er einmal werden möchte. Er ist fasziniert vom Schwiegervater, von Freya, fasziniert, dass der Rechtsanwalt ist. Er lernt etwas kennen, was er dort in Schlesien bisher nicht gekannt hat: eine liberale, offene Familie und Gesellschaft. Er lernt Menschen aller Nationen, aller Religionen, aller Hautfarben dort in Südafrika durch seine Frau kennen. Das weitet seinen Horizont und für ihn ist klar, er möchte Anwalt werden.

Er studiert und ist mehr als gut. Man bietet ihm an, dass er nach Ende seiner Studien Richter werden kann, dort in Niederschlesien oder, wenn er sogar möchte, in Berlin, allerdings unter der Bedingung, dass er in die Partei eintreten muss. Dann ist ihm eine Karriere möglich. Da ist für ihn vollständig klar: Ich werde nicht in die NSDAP eintreten. 1933, als unendlich viele Deutsche nichts schneller tun können, als in die Partei einzutreten und Karriere zu machen, weiß dieser junge Mann: Das werde ich nicht tun. Diese Karriere werde ich nicht anfangen.

Mit diesen Menschen mache ich mich nicht gemein. Er diskutiert lange mit Freya darüber, und beide sind sich einig: Wer einmal die schiefe Ebene betritt, der kommt ins Rutschen und findet keinen Halt mehr. Er wird diesen Weg nicht betreten. Auf Anraten seines Schwiegervaters beginnt er eine zusätzliche Studienausbildung. Er lernt britisches Recht, studiert es intensiv und tritt in eine Anwaltskanzlei ein, die auf Kriegsrecht und Völkerrecht spezialisiert ist.

Als das Deutsche Reich Polen überfällt und damit der Zweite Weltkrieg seinen Anfang nimmt, wird Helmut James von Moltke zwangsverpflichtet ins Oberkommando der deutschen Wehrmacht. Er erhält die Aufgabe, Gutachten für den Krieg zu erstellen. Man braucht ihn als Feigenblatt, um irgendwie juristisch das zu rechtfertigen, was in Polen und später in den anderen Ländern geschieht, in die das Deutsche Reich einfällt. Er ist schockiert. Das, was er auf den Schreibtisch bekommt, bestätigt seine schlimmsten Erwartungen. Das Völkerrecht wird gebrochen, das Menschenrecht wird gebrochen, und es werden Verbrechen begangen, die mit dem Recht nicht zu vereinbaren sind. Er ist am Boden zerstört als Großbritannien und Frankreich zustimmen, dass das Völkerrecht gebrochen wird und das die Tschechoslowakei ähnlich wie heute die Ukraine an das Deutsche Reich fällt. Da weiß er, dass Europa verloren ist. Wer einen Rechtsbruch zulässt, wer zulässt das souveräne Grenzen verletzt werden, der lässt auch zu, dass alle anderen Rechte am Ende gebrochen werden. Er verfasst seine erste Denkschrift und hat das Glück, im Oberkommando der Wehrmacht einen Gleichgesinnten, einen Freund, zu finden. Langsam tasten sich die beiden heran – Peter Jörg von Battenberg. Sie merken, dass sie die gleiche Gesinnung und die gleichen Ideen haben. Jetzt ist es Zeit, zu überlegen, wie sie in dieser Situation, in der das Recht so massiv gebrochen wird, damit umgehen sollen.

Freya formulierte es so: „Wir haben in unserem Kreis von Denkenden und Suchenden schon genug Protestanten. Jetzt brauchen wir noch Katholiken.“ Und so kommt Alfred Delp und Pater Rösch in diesen Kreis dazu. Jetzt haben wir schon genug Kapitalisten, jetzt brauchen wir noch Sozialisten.  Und so gewinnen sie neben Wilhelm Leuschner auch andere Sozialisten die in diesen Kreis dazukommen. Jetzt haben wir schon genug Aristokraten, jetzt brauchen wir auch einfache Bürger. Und so wächst dieser Kreis auf mehr als zwanzig Personen an, die sich Gedanken darüber machten, wie es weitergehen könnte, wenn einmal der Nationalsozialismus vorbei ist.

Helmut James von Molke erfährt, dass seine Freunde von der Gestapo bespitzelt werden. Er steht im Zwiespalt: Wenn er sie warnt, landet er selbst im Gefängnis. Weil nur er weiß, dass die Freunde bespitzelt werden. Warnt er sie nicht, wird die Gestapo sie verhaften, und sie werden hingerichtet. Es ist die Abwägung zwischen dem eigenen Leben und dem fremden Leben. In der Zwischenzeit hat er vier Kinder – drei Jungen und ein Mädchen. Er weiß, dass Freya mit den Kindern in Kreisau nur schwer zurechtkommen wird, wenn der Vater ihnen genommen ist. Seine Maxime ist jedoch, Leben retten und darauf vertrauen, dass Gott für den morgigen Tag sorgen wird. Und so warnt er die Freunde, dass sie von der Gestapo bespitzelt werden, und sie können sich nach Frankreich in Sicherheit bringen. Er selbst wird jedoch umgehend verhaftet und landet im Gefängnis.

Noch kann man Helmut James von Molke nicht nachweisen, was für Umsturzpläne er hat oder dass er Verbindungen zu Graf von Stauffenberg hat. Doch als am 20. Juli das Attentat auf Hitler scheitert und den Nazis klar wird, dass nicht nur ein Einzelattentat, sondern ein ganzes Netzwerk dahintersteht, erinnern sie sich auch an den Anwalt aus dem Oberkommando der Wehrmacht, der im Gefängnis sitzt. Nun werden alle gefoltert, um herauszufinden, wie die Verbindungen sind und wer alles dazugehört. Nach und nach gelingt es den Nazis, der Gestapo, eine Person nach der anderen zu verhaften und ins Gefängnis zu bringen. Alle werden zum Tode verurteilt.

Helmut James von Molke bleibt persönlicher Gefangener von Adolf Hitler.

Er besteht darauf, dass, wenn der Krieg zu Ende ist, von Moltke in einem Schauprozess hingerichtet wird, als persönlicher Verräter am Führer. Nach dem Urteil schreibt von Moltke an seine Kinder:

„Euch, meinen Kindlein, will ich folgendes sagen. Ich habe mein ganzes Leben lang, schon in der Schule, gegen einen Geist der Enge und Gewalt, der Überheblichkeit, der mangelnden Ehrfurcht vor anderen, der Intoleranz und des Absoluten angekämpft, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in den nationalsozialistischen Staat gefunden hat. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, dass dieser Geist mit seinen schlimmen Folgeerscheinungen wie Nationalismus, Rassenverfolgung, Glaubenslosigkeit und Materialismus überwunden werden. Es ist mir wichtig, dass ihr später versteht, warum euer Vater im Gefängnis sitzt und warum er zum Tode verurteilt worden ist. Das Wichtigste war ihm, dass es wieder Recht gibt. Das Wichtigste war, und daran hat der Kreisauer Kreis gearbeitet und geglaubt, dass als erstes wieder das Recht eingesetzt wird und dass die Deutschen die Bestrafung der Nationalsozialisten nicht den Siegermächten überlassen, sondern dass sie selber Gerichte aufbauen, sich selber mit den Taten auseinandersetzen, sich selber Gedanken machen, wie kann man all diese Gräuel, die er auf seinen Schreibtisch bekommen hat, von denen er wusste, die ihm die Luft zum Atmen genommen haben, wie kann man die gerecht bestrafen?

Darum war es mir wichtig, dass evangelische und katholische Theologen im Kreisauer Kreis sind. Denn eine Erfahrung hatten sie alle miteinander gemacht: Was bleibt, wenn der Staat das Recht außer Kraft setzt? Was bleibt, wenn Parteien das Recht verbiegen? Was bleibt, wenn das Völkerrecht missachtet wird? Was bleibt, wenn Einzelne über alles, Recht und Gerechtigkeit sich hinwegsetzen? Dann bleibt nur Gott.

Die Jünger kehren wieder zu Jesus zurück und berichten ihm alles, was sie gelehrt und getan haben. Das war die Auffassung des Kreisauer Kreises: Alles, was wir tun und alles was wir lehren, muss vor Jesus Bestand haben. Dafür sind wir konfirmiert, dafür sind wir gefirmt, dass das Bestand hat, was wir tun, denken und lehren. Vor dem, der uns stark gemacht hat mit einem Geist, der nicht der Geist der Welt ist. Dafür werden wir gesalbt. Das war dem Kreisauer Kreis unendlich wichtig.

Und darum treffen sich Helmut Kohl und Morajewski auf Gut Kreisau in Polen, weil sie wissen, dass, wenn Völker das Recht brechen, wenn Menschen sich über das Recht hinwegsetzen, dann ist diese Geste im Gottesdienst der Friedensgruß ein Zeichen dafür, dass wir noch eine andere Verantwortung haben, im Bruder und in der Schwester mehr zu sehen als einen Polacken oder als einen Deutschen. Im Bruder und der Schwester mehr zu sehen als den Feind, als den anders Glaubenden, den anders Denkenden oder den anders Aussehenden. Der Friedensgruß sagt: Ich sehe in dir meinen Gott. Der Friedensgruß ist Gottes Begegnung und alles Denken über den Anderen, alles Reden über den Anderen und alles Handeln am anderen muss vor Jesus Bestand haben.

Der Kreisauer Kreis war der festen Überzeugung, es braucht kleine Gruppen, die sich Gedanken machen, wie kann das Recht und die Gerechtigkeit aussehen? Es braucht kleine Gruppen, die sich jetzt schon vorbereiten, was machen wir, wenn das Recht gebrochen wird? Es braucht kleine Gruppen, die jetzt schon überlegen, wie agiere ich, wenn die Politik sich über das Recht hinwegsetzt? Es braucht Christenmenschen, die sich jetzt schon Gedanken machen.

In einem Bienenstock auf dem Gut Kreisau hat Freya die Briefe ihres Mannes versteckt, die der Gefängnispfarrer hinausschmuggelt. Im letzten Brief kurz vor seiner Hinrichtung schreibt Helmut James von Moltke an seine Frau Freya:

„Mein Herz, mein Leben ist vollendet. Ich kann von mir sagen, er starb alt und lebenssatt. Das ändert nichts daran, dass ich gerne noch etwas mit dir leben möchte, dass ich dich gerne noch ein Stück auf dieser Erde begleitet hätte. Aber dann bedürfte es eines neuen Auftrags Gottes. Der Auftrag, für den Gott mich gemacht hat, ist erfüllt.“

Mit 37 Jahren wurde Graf von Moltke in Plötzensee hingerichtet. Amen.