Predigt Pfarrer Dr. Ronald Givens am 26.10.2025:„Gerade Linien sind gottlos!“

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,
wenn Sie schon einmal in einer fremden Stadt unterwegs waren und dort die U-Bahn oder die öffentlichen Verkehrsmittel verwendet haben, oder wenn Sie schlicht einfach mit der Deutschen Bundesbahn unterwegs sind, dann kennen Sie diese Pläne. Da sieht man mit bunten Farben, wie man von A nach B kommen kann. Und dann kann man genau sehen, in geraden Linien – da geht’s lang, da komme ich hin.
Aber Sie alle wissen auch: Wenn Sie in eine dieser U-Bahnlinien oder Züge einsteigen, wo es so gerade aussieht, oder wenn Sie in den Bus einsteigen, dann geht das gar nicht so gerade, sondern kreuz und quer und krumm durch die Gegend. So ein Plan ist idealisiert. Die Wirklichkeit, wenn man eingestiegen ist, sieht ganz anders aus. Da fährt man eine ganz andere Strecke.
Als es noch viele Pfarrer hier im Dekanat gegeben hat, da gab es auch ein regelmäßiges Treffen. Da saßen wir zusammen und haben erzählt von der Arbeit, von dem, was wir miteinander machen. Das war so ähnlich wie so ein Plan für die U-Bahn oder für die öffentlichen Verkehrsmittel. Denn alle haben erzählt, wie toll es bei ihnen in der Pfarrei läuft, wie klasse es läuft, wie man von einem Schritt zum anderen kommt, wie gut das alles funktioniert. Und erst nach zwei, drei Gläsern Wein am Abend – was dann so ähnlich ist, wie wenn man in die Deutsche Bundesbahn einsteigt – da kamen die Baustellen, da kamen die Verzögerungen, da kamen die tatsächlichen Wege. Da hat man gemerkt und erzählt: So glatt läuft das alles nicht. Das Leben verläuft ganz anders. Das ist ganz schwierig.
Hundertwasser hat einmal gesagt: „In der Natur gibt es nicht eine einzige gerade Linie. Die gibt es nur von Menschen gemacht. Und die gerade Linie, die ist gottlos.“ Da steht der Pharisäer vor Gott, und wie langweilt er Gott mit seinem langweiligen, glatten Leben – was er alles gut macht, was er alles toll macht, was er alles prima macht.
Wie furchtbar ist das, wenn wir im Café zusammensitzen und jeder erzählt nur, wie toll alles ist, wie super die Enkel sind, wie klasse die Arbeit läuft, wie gut man selbst ist, wie gesund und wie gut drauf. Wenn man sich von einer Anekdote, von einem Geschichtchen zum anderen hangelt, dann nach Hause geht und es glücklich vermieden hat, von sich selber irgendetwas zu erzählen – von den Kindern, um die man sich Sorgen macht, von den Enkeln, die nicht anrufen, von der Arbeit, wo man nicht weiß, wie es morgen weitergeht, von dem Knoten in der Brust, wo man nicht weiß, was das bedeutet.
Wie anders der Zöllner. Er stellt sich hin und erzählt, dass sein Leben kein U-Bahn-Plan ist, sondern dass da Sackgassen sind, dass da Brüche und Zwänge sind, dass er manchmal so gerne anders würde, aber es geht nicht, weil das Leben so nicht verläuft. Weil es keine gerade Linie ist, sondern weil es krumm und schepp ist und weil das alles andere als einfach ist. Und das heißt: Der, der von sich erzählt hat, der geht weg und der ist gerechtfertigt.
Haben Sie einen Freund, eine Freundin, wo Sie von sich erzählen können? Haben Sie einen Partner, eine Partnerin, haben Sie jemanden, wo Sie so erzählen können, dass Sie nicht den glatten U-Bahn-Plan hinlegen müssen, sondern sagen können: „Was für eine bescheidene Woche! Was ging da wieder alles schief, was habe ich gedacht, das kriegen wir jetzt hin – und es geht doch wieder nicht.“
Haben Sie so jemanden, wo Sie nachher weggehen und sagen: „Das war eine gute Stunde. Das war ein guter Nachmittag. Das war wirklich so, dass ich aufatmen kann, dass mein Leben ins Wort gekommen ist.“ Dass Sie gerechtfertigt von dannen gehen? Denn Gott ist ein guter Zuhörer.
Bei dem einen denkt er: „Lass mich in Ruhe mit deiner gebeteten Langweile.“ Bei dem anderen sagt er: „Ich gebe dir meinen Geist. Ich gebe dir alles, damit du getröstet heimgehst.“
Bevor Jesus in den Himmel hinauffährt, da macht er etwas ganz Entscheidendes, etwas ganz Wichtiges, etwas auch in der Religionsgeschichte Einmaliges. Er sagt: „Ich gebe euch meinen guten Geist. Ich gebe alles, was ich habe.“ Er haucht seine Jünger an, er haucht uns an und sagt: „Von jetzt an seid ihr meine Zuhörerinnen und Zuhörer, wenn es um das Leben geht.“
Ihr seid diejenigen, die so zuhören sollen, dass die Kinder – wenn sie daheim beim Mittagstisch oder abends, wenn die Schule wieder so richtig bescheiden gewesen ist – danach in ihr Zimmer gehen und das Gefühl haben: „Meine Mama, mein Papa hat mir zugehört. Hat mir wirklich zugehört.“
Ihr seid diejenigen, die so viel Gottes Geist in sich haben, dass, wenn die Tür aufgeht und der Mensch, den ihr liebt, nach Hause kommt, weiß: „Jetzt gehört erst einmal das Herz, das Ohr mir. Ich kann erzählen, ich kann berichten.“
Und er schenkt uns seinen Geist. Er haucht uns an, damit wir, wenn wir reden, so reden, dass wir nicht über die Anekdötchen reden, nicht über die netten Familiengeschichtchen, sondern dass wir so miteinander reden, dass der andere weiß: „Das gab’s in meiner Familie auch. Das gibt’s in meiner Ehe auch. Das gibt’s bei meinen Kindern auch. Das gibt’s in meinem Herzen auch.“
Jesus traut uns zu, dass wir solche Zuhörerinnen und Zuhörer sind, dass niemand einen geschönten Lebensplan hinlegen muss, damit der Nachmittag herumgeht, sondern dass wir erzählen können vom Leben. Und Jesus traut uns zu, dass wir so miteinander reden, dass der andere spürt: „Ich bin da nicht allein. Das gibt es bei anderen genauso. Wir stärken uns gegenseitig.“
Wir geben uns etwas von Jesu gutem Geist, damit wir von A nach B kommen – mit Baustellen, mit Sackgassen, mit Verspätungen, mit Umwegen, mit langen Wartezeiten. Niemals glatt, niemals die gerade Linie, denn die ist gottlos. Aber mit Umwegen, weil das menschlich ist. Und darum wird Gott Mensch in Jesus.
Amen.