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Predigt Pfarrer Dr. Givens am 13.07.2025:Hand aufs Herz

Hand aufs Herz!
Hand aufs Herz: Spüren Sie noch die Menschen neben Ihnen? Hand aufs Herz: Vibriert da noch etwas in Ihrem Herzen, wenn Sie an Ihren Mann, wenn Sie an Ihre Frau denken? Vibriert da noch etwas in Ihrem Herzen, wenn Sie an Ihre Kinder denken?
Datum:
13. Juli 2025
Von:
Vincent Gutscher

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn.

Von meiner Schwester habe ich einen Roman geschenkt bekommen, und da gibt es eine Episode, von der ich Ihnen erzählen möchte:

Die Handlung ist relativ einfach: Ein Mann braucht Abstand von allem, und er flieht – von der Ehe, die in die Brüche geht, von der Arbeit, die zu viel ist. Er flieht von allem und zieht sich zurück, zehn Tage lang an die Küste von Schottland, in ein kleines Häuschen, in eine winzige Dorfgemeinschaft. Und kaum ist er da angekommen, bricht Corona aus. Er sitzt nun in diesem Cottage am Ende der Welt, und alle gehen auf Abstand. Das kennen wir, das haben wir alle auch erlebt. Auf einmal ist nichts mehr, wie es vorher war. Auf einmal wird alles schwierig, und niemand weiß so recht: Wie geht man jetzt miteinander um?

Und, um das Maß noch voll zu machen - er weiß nicht, wann er wieder zurückkehrt in sein normales Leben –, schickt ihm seine Frau den gemeinsamen Sohn mit 15 Jahren und sagt: „Ich bin systemrelevant. Kümmer du dich um ihn.“ Da kommt dieser Pubertierende in dieses Cottage am Ende der Welt, in diese Dorfgemeinschaft, wo alle auf Abstand gehen und nicht wissen, wie es weitergeht. Auch er weiß nicht so recht, was er mit seinem Sohn jetzt in dieser Einsamkeit anfangen soll.

Dann nimmt er ihn einfach mit, an den Strand, überallhin, immer unter den wachsamen Augen der Dorfbewohner. Denn, auch wenn alle auf Abstand gehen müssen, sind alle nach wie vor neugierig und schauen: Was gibt es? Was passiert da?

Eines Tages geht er in den einzigen Dorfladen, den es gibt, der von Becky geleitet wird. Und als er den Laden betritt, da läuft im Hintergrund die Musik von Madame Butterfly. Es wird jubiliert und gesungen, es spielen die Melodien, und Becky und er unterhalten sich.

Da schaut sie sich den Jungen ganz genau an und fragt den Vater: „Was ist mit deinem Sohn? Warum schaut er die ganze Zeit auf den Boden?“ Da sagt er zu ihr: „Er ist taub. Er kann nicht hören.“

Da geht Becky her und buchstabiert ihren Namen mit den Fingern – irgendwie. Und der Junge fängt an zu strahlen und zu lachen, und buchstabiert seinen Namen zurück. Und irgendwie schaffen es die beiden, der Junge und Becky, miteinander ins Gespräch zu kommen – obwohl Becky die Gebärdensprache nicht kann. Der Vater übersetzt ab und zu, er kann die Gebärdensprache, und der Junge blüht auf. Endlich jemand, der Kontakt zu ihm sucht, endlich jemand, der mit ihm redet und spricht.

Im Hintergrund singt und jubiliert Madame Butterfly, und am Ende, als der Einkauf getätigt ist und alles im Einkaufswagen ist, als die Hände fünfmal desinfiziert sind, da fragt der Junge Becky: „Gefällt dir diese Musik?“ Da schaut sie ihn mit riesigen Augen an und fragt ihn mit den Fingern und mit Gesten zurück: „Woher weißt du, dass da Musik läuft?“

Dann nimmt der Junge die Hand von Becky und legt die Hand auf die Tresenplatte, wo eine Glasscheibe ist. Da spürt Becky, wie Madame Butterfly singt und jubelt.

Das Wort Gottes – da musst du nicht auf einen Berg hinaufsteigen, nicht übers Meer fahren. Das Wort Gottes – das ist ganz nah bei dir, das ist in deinem Herzen. Der Junge spürt an der Tresenplatte, was Becky bewegt. Er spürt die Musik, spürt, obwohl er gar nichts hören kann, was den Raum erfüllt.

Hand aufs Herz: Spüren Sie noch die Menschen neben Ihnen?

Hand aufs Herz: Vibriert da noch etwas in Ihrem Herzen, wenn Sie an Ihren Mann, wenn Sie an Ihre Frau denken? Vibriert da noch etwas in Ihrem Herzen, wenn Sie an Ihre Kinder denken?

Hand aufs Herz: Hören Sie noch Madame Butterfly, wenn Sie mit anderen zusammen sind?

Hand aufs Herz: Spüren wir noch, wie das gewesen ist, als wir gar nicht davon lassen konnten, mit dem anderen, mit der anderen zusammen zu sein? Spüren wir noch die Momente, als wir am liebsten den ganzen Tag im Bett verbracht hätten?

Und die, die jemanden loslassen mussten - wenn Sie vor dem Bild stehen von Ihrer Frau, von Ihrem Mann, von dem Kind – Hand aufs Herz: Vibriert da noch etwas? Spüren wir noch etwas? Oder sind wir zum Priester und Leviten geworden, die nichts mehr spüren, wo keine Madame Butterfly mehr am Herzen singt? Wo der Beruf, der Alltag, die Pflicht so viel wichtiger ist?

Der Junge nimmt die Hand von Becky und legt sie auf die Tischplatte und erinnert sie daran: „So viel vibriert in deinem Leben. So viel ist hörbar, wenn dein Herz fühlbar geblieben ist.“

Das, was Mose sagt: Du musst nicht auf den höchsten Bergen, du musst nicht übers Meer fahren, du musst gar nichts erreichen. Du musst nur den Kontakt zu deinem Herzen behalten, niemals verlieren.

Und wie ist das, wenn der Schriftgelehrte antwortet „Den Herrn, deinen Gott, sollst du lieben – von ganzem Herzen, mit all deinem Denken, mit ganzer Seele, mit aller Kraft.“?

Wenn Sie irgendwo im Urlaub eine Dorfkirche betreten – hören Sie da noch Madame Butterfly, oder sehen Sie nur die Schnitzereien und die Malereien und wie schön das gestaltet worden ist?

Hören wir noch von diesem Jesus, der uns als Kind und mit seinen Geschichten begeistert hat, wie er geboren worden ist in Bethlehem?

Hand aufs Herz: Spüren wir das noch, was das heißt – „Selig seid ihr!“? Klingt da noch Madame Butterfly nach – so wie bei der ersten Kommunion, die wir empfangen haben, wenn wir heute zur Kommunion gehen?

Der Junge legt die Hand von Becky auf die Tischplatte und lässt sie spüren, was wesentlich ist, und lässt den Vater sehen, was er beinahe überhört und übersehen hätte. Der Schriftgelehrte stellt Fragen – und Jesus sagt ihm: „Achte auf dein Herz.“ Und Mose sagt uns: „In eurem Herzen ist alles.“

Probieren wir das aus – heute Abend auf der Bettkante. Wenn Sie sich ausziehen – hören Sie noch Madame Butterfly? Wenn da neben Ihnen jemand ins Bett steigt? Probieren Sie es auf der Bettkante aus, wenn Sie an die Menschen denken, die Sie gepflegt haben, die Sie loslassen mussten, die Sie vermissen, die nicht mehr da sind.

Hören Sie dann noch Madame Butterfly, wenn Sie an die Menschen denken?

Und die Kinder, die sich vielleicht nicht melden oder viel zu selten melden, mit denen es vielleicht manchmal auch schwer ist – aber hören Sie über alle Trauer hindurch, durch allen Abstand, durch alle Fragezeichen hindurch, Hand aufs Herz – hören Sie dann noch Madame Butterfly? Wie das war, als die noch klein waren, wie das war, als alles unkompliziert gewesen ist?

Das ist nicht verloren. Das ist doch immer noch da. Das gehört doch zu unserem Leben. Das ist doch die Grundmelodie unseres Lebens.

Wenn Sie auf der Bettkante sitzen und sich ausziehen, vielleicht längst in Rente sind – erinnern Sie sich noch an die Kolleginnen und Kollegen, an die, mit denen es einfach Spaß gemacht hat, eine Leidenschaft, einen Beruf, eine Arbeit, eine Profession miteinander zu teilen.

So vieles macht unser Herz reich, und so vieles schwingt – gerade dann auch, wenn wir uns Sorgen machen um einen Menschen, wenn jemand durch eine schwere Krankheit geht.

Dann ist es wichtig: Hand aufs Herz, und sie so lange dort lassen, bis ich Madame Butterfly höre – durch alle Sorgen, durch alle Ängste, durch alle Arztgespräche hindurch:

„Wir lieben uns. Und wir gehen da gemeinsam durch.“

Der Priester und der Levit haben nichts mehr gespürt. Bevor wir so werden: Hand aufs Herz – bis wir wieder gut hören.

Amen.