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Predigt Pfarrer Dr. Givens am 25.05.2025:Jesusperspektive

Jesusperspektive
Wer den höchsten Kirchturm der Welt besteigen möchte, muss sich beeilen, denn noch steht er in Ulm und ist relativ nah zu erreichen. Aber 15 km von Ulm entfernt basteln Ingenieure, Techniker und Handwerker daran, dass demnächst woanders der höchste Kirchturm der Welt steht.
Datum:
25. Mai 2025
Von:
Pfr. Dr. Ronald A. Givens

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn.

An Himmelfahrt und an Pfingsten ändert sich die Perspektive. An Himmelfahrt und Pfingsten geht's nach oben. Darum steht in jedem Dorf, in jeder Stadt auch ein Kirchturm, um deutlich zu machen: Ihr lebt nicht nur vom Erdboden, von dem, was die Erde gibt. Ihr lebt auch aus der Kraft des Himmels!

Darum haben die Eltern, die gestern ihr Kind hier haben taufen lassen, auch den Taufbrunnen geschmückt, als Zeichen: Wir schenken unserem Kind nicht nur dieses Leben, diese irdische Lebenszeit, wir lassen unser Kind taufen, weil wir ihm auch den Himmel schenken wollen, weil wir unserem Kind sagen möchten: „Die Erde haben wir dir gegeben, und in der Taufe möchten wir dir auch den Himmel schenken.“

Und darum werdet ihr gefirmt. Die Kraft von oben, der heilige Geist wird euch auf die Stirn geschrieben, und euch wird gesagt: „Vergiss nicht, du bist nicht nur ein Erdenkind, du bist auch ein Kind des Himmels. Vergiss nicht, den Himmel mit in die Lebensrechnung einzubeziehen!“

Wer kennt das nicht: Wenn man auf einem Berg hinaufsteigt und die Welt von oben aus der anderen Perspektive anschaut, sieht alles gleich ganz anders aus. Und manchmal sind Kirchtürme so hoch wie ein Berg, damit man einen anderen Blick auf die Stadt gewinnt.

Wer den höchsten Kirchturm der Welt besteigen möchte, muss sich beeilen, denn noch steht er in Ulm und ist relativ nah zu erreichen. Noch gelingt es, auf den höchsten Kirchturm hier bei uns in Deutschland zu steigen und von dort die Welt anzuschauen. Aber 15 km von Ulm entfernt basteln Ingenieure, Techniker und Handwerker daran, dass demnächst woanders der höchste Kirchturm der Welt steht. Dort, in dieser Werkstatt in der Nähe von Ulm, bauen sie ein gläsernes Kreuz, 17 m hoch, aus Glas, Stahl und Keramik.

Das Besondere wird sein: Man kann in die vier Arme dieses Kreuzes hineingehen und dann von dort oben auf die Stadt hinausschauen. 150 Jahre lang hat man an dieser Kirche gebaut, 150 Jahre lang die damals verrückte Idee eines Bauherrn umgesetzt, nach und nach ist diese Kirche gewachsen und größer geworden, und jetzt kommt der Abschluss.

Der Abschluss wird sein, dass dieses 17 m hohe gläserne Kreuz oben auf den höchsten Kirchturm kommt, dass man dann im Kirchturm nach oben gehen kann, hinausgehen kann in die vier Arme, und auf Barcelona hinabschauen kann. Und dann wird der Kirchturm der la Sagrada Família der höchste Kirchturm der Welt sein, 10,32 m höher als der Ulmer Kirchturm.

Das wird Barcelona verändern: Nicht nur, weil da oben ein gläsernes Kreuz ist, sondern weil die, die da hinaufsteigen und auf Barcelona hinabschauen, eine andere Perspektive gewinnen werden. Und selbst wenn ihr miteinander hinaufsteigen würdet, alle zur gleichen Zeit, und alle miteinander gleichzeitig hinunter schauen würdet auf Barcelona, auf La Ramblas, auf das Meer und diese wunderschöne Stadt, und danach herunterkommen würdet und erzählt, was ihr gesehen habt, würde jeder und jede von euch etwas anderes erzählen, obwohl ihr zur gleichen Zeit hinausgeschaut habt.

Ihr hättet alle etwas anderes gesehen, weil wir niemals gleich sehen. Ein Ehepaar sieht nicht gleich, die Generationen sehen nicht gleich, jemand, der sich mühsam mit dem Rollator hat hinaufbringen lassen sieht ganz anders hinunter auf die Stadt als jemand, der da hinaufgerannt ist und die Stufen gezählt hat. Jemand der weiß, wie es ist, in einem Mehrfamilienhaus zu leben, sieht ganz anders hinunter auf Barcelona als jemand, der ein Haus am Meer hat. Unser Leben prägt auch unser Sehen, unser Erleben prägt unser Sehen.

Und es ist schon etwas Besonderes, in einem gläsernen Kreuz auf das Leben zu schauen. Im Evangelium hat es geheißen: Der Vater und ich, Jesus und der Schöpfer, werden Wohnung in uns nehmen. Dann werden wir so etwas wie so ein gläsernes Kreuz. Dann wird Gott, der Vater, in uns Wohnung nehmen und hinausschauen aus unserem Herzen. Er wird durch unsere Augen auf unsere Welt hinausschauen. Und natürlich verändert das unser Wissen, wenn ich weiß: „In mir lebt Gott der Schöpfer!“

Und natürlich ändert das auch unser Handeln, wenn der Schöpfer selbst in unserem Herzen Wohnung nimmt. Dann schaue ich anders auf die Mitgeschöpfe, unserer Tiere. Wenn ich weiß, dass der, der den kleinsten Grashalm und den größten Mammutbaum, das Senfkorn und den Laubfrosch geschaffen hat, in mir wohnt und durch mich hinausschaut, mit mir durch die Welt geht, wenn Gott der Schöpfer in mir ist, schaue ich anders auf die Welt. Dann kann ich nicht wegstreichen, was ich weiß, welche Liebe in dieser Schöpfung steckt, wie Gott sein Volk durch die Höhen und durch die Tiefen begleitet hat, durch alle Gefahren. Wie er der ist, der von sich gesagt hat: Ich bin der ich bin da!

Dann kann ich nicht anders, als mit ihm diese Welt anzuschauen und zu sehen: Wie schaut denn der Schöpfer aus meinem Herzen die Nachrichten über den Sudan? Wie schaut der Schöpfer aus meinem Herzen auf die Menschen im Gazastreifen? Wie schaut der Schöpfer in meinem Herzen auf das, was ich kaufe oder nicht kaufe, wie ich lebe oder wie ich nicht lebe? Wenn das wahr ist, dass Gott, der Schöpfer, in uns lebt, wenn er wie in diesem gläsernen Kreuz auf la Sagrada Família mit mir auf mein Leben hinausschaut, werde ich anders leben, weil ich dann nicht alleine, sondern mit vier Augen auf mein Leben schaue.

Und nicht nur der Schöpfer, nicht nur Gott, der das Leben geschaffen und jedem von uns Würde gegeben hat, sondern auch Jesus nimmt Wohnung in uns. Jesus, der erfahren hat, dass eine uneheliche Mutter zu ihm „Ja!“ gesagt hat. Ein Vater alles Recht beiseitegeschoben hat und gesagt hat: „Ich stehe zu dir!“ Ein Jesus, der Kranke berührt hat und sich mit denen zu Tisch gesetzt hat, mit denen sich niemand zu Tisch gesetzt hat. Der in der Synagoge am Sabbat aufgestanden ist, alle frommen Gebote über Bord geworfen hat und gesagt hat: „Ich will, dass da etwas heil wird, dass da etwas anders wird!“

Wenn dieser Jesus in mir Wohnung genommen hat, dann kann ich auf Kinder nicht mehr schauen, wie ich bisher geschaut habe. Dann kann ich auf die Kranken, auf die Starken, auf die Schwachen nicht mehr ohne seine Lebensgeschichte hinschauen. Wenn er in mir Wohnung genommen hat, verändert das alles, dann gehe ich nicht mehr allein durchs Leben.

Aber das bedeutet auch, dass es nicht nur den Blick von meinen Lehrern und Lehrerinnen auf mein Leben gibt. Es gibt nicht nur den Blick von den Nachbarn, nicht nur den Blick von irgendwelchen Leuten, die mir vorgesetzt sind, sondern auch immer den Blick von dem, der ganz unten angekommen ist, Mensch geworden ist und immer und immer wieder das Gute im Menschen gesucht hat. Der nicht nach Zeugnissen oder Noten, nicht nach Stärken gefragt hat, sondern nach der Liebe.

Dann gehe ich durchs Leben mit dem Wissen: In mir ist da ein Gott, der wie der barmherzige Vater nichts anderes möchte als Ausschau zu halten nach mir, auch dort, wo ich mich verloren habe. Auch dort, wo andere mich verloren gegeben haben, auch dort, wo mir das Leben unter den Händen zerbrochen ist, läuft er nicht davon, sondern bleibt bei mir.

Man muss nicht unbedingt nach Barcelona fahren, um einen anderen Blick auf das Leben zu gewinnen. Aber ab und zu, wenn man einen Kirchturm sieht, sich daran zu erinnern: Der Himmel hat in mir Wohnung genommen und lädt mich ein, dass ich mit Himmelsaugen, mit Himmelsperspektive, mit Schöpferperspektive, mit Jesusperspektive auf meine Mitschüler, auf meine Mitmenschen, auf meine Mitgeschöpfe, auf meine Mitnatur schaue. Das lohnt sich, und dafür stehen bis heute Kirchtürme für den Perspektivwechsel.

Amen