Zum Inhalt springen

Predigt Pfarrer Dr. Givens am 23.02.2025:Kann der Mensch über sich hinauswachsen?

Kann der Mensch über sich hinauswachsen?
Wenn man oben in der Neuen Nationalgalerie in Berlin angekommen ist, dann muss man durch viele Säle hindurchlaufen, an wunderschönen Bildern vorbei, bis man schließlich in der hintersten Ecke der Nationalgalerie in einem riesigen Raum steht.
Datum:
25. Feb. 2025
Von:
Pfr. Dr. Ronald A. Givens

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn.

Man muss erst eine große, marmorne Freitreppe hinauflaufen, dann steht man unter einem wunderschönen Deckengemälde, einer kleinen Kuppel, aber es geht noch viele, viele Stufen und Treppen hinauf. Wenn man oben in der Neuen Nationalgalerie in Berlin angekommen ist, dann muss man durch viele Säle hindurchlaufen, an wunderschönen Bildern vorbei, bis man schließlich in der hintersten Ecke der Nationalgalerie in einem riesigen Raum steht.

Da hängt nur ein einziges Gemälde an der Wand, und wenn man davorsteht, kann man gar nicht genug Staunen. Da ist eine riesige Leinwand, ein grauer, unendlicher Himmel, dunkles Meer, ein wenig Land. Vor dieser unendlichen Weite der Natur, in dieser absoluten Verlorenheit, steht ein einziger Mensch.

Caspar David Friedrich hat in der größten Not seines Lebens dieses unglaubliche Gemälde gemalt, das heißt „Der Mönch am Meer“, und man spürt diese Verlorenheit dieses Menschen: Wie klein er und wie gewaltig alles um ihn herum ist, wie verloren und einsam er ist. Die Frage kommt auf:

„Kann der Mensch über sich hinauswachsen?“

Die Zeitgenossen von Caspar David Friedrich haben sich totgelacht über dieses Bild, sie haben ihn verspottet, ihn verrissen, aber er hat damit den Beginn der modernen Malerei gelegt. Das ist das erste abstrakte Gemälde, der Beginn von etwas ganz Neuem. Da ist ein Maler über all die Vorstellungen, über die Malweise seiner Zeit hinausgewachsen und hat die Zukunft gemalt.

Das ist das, was wir gerade eben in der Lesung gehört haben:  

König David kann in dieser Nacht alle Macht bekommen, er ist am Ziel seines Lebens, er muss jetzt nur noch den alten König Saul töten, dann hat er es.

Da wächst dieser junge Mensch David über sich hinaus und sagt: „Ich will nicht so werden wie der, der mich verfolgt. Ich kann anders sein. Ich möchte nicht über einen Mord zur Macht kommen!“ Er wächst über sich hinaus in dieser Nacht und geht weg.

Das ist es, was Caspar David Friedrich gemalt hat:

Die Möglichkeit in jeder und jedem von uns, über sich selbst hinauszuwachsen. Das, was wir im Evangelium gehört haben. Immer und immer wieder stehen wir ganz allein vor dieser Frage: „Wie möchte ich mich jetzt entscheiden? Bleibe ich beim Klein-Klein, bleibe ich bei dem wie es alle tun, oder bin ich fähig über mich hinauszuwachsen?“

Da gibt es genug Beispiele: Da ist der Vater, der eigentlich kein Sorgerecht bekommen soll, er muss sich durch eine Instanz nach der anderen kämpfen und einen Rechtsstreit machen, weil er seine Tochter begleiten und da sein möchte. Er nimmt in Kauf, dass ihm alles in den Weg gelegt wird, aber er sieht: ‚Das ist es wert, für mein Kind!‘

Er wächst über sich hinaus und schluckt all das, was ihm an Schmach und Spott entgegenschlägt.

Da ist die Schwiegertochter, die es nie recht machen konnte, die immer alles falsch gemacht hat. Die ständig gespürt hat, dass sie den Sohn weggenommen hat, und die am Ende alles hinunterschluckt und die Schwiegermutter pflegt - Woche für Woche, Monat für Monat. Die einfach da ist, über sich hinauswächst und vergisst, was man ihr angetan hat.

Da ist das Ehepaar, das eigentlich schon in getrennten Wohnungen gewesen ist. Die eigentlich schon auseinandergelaufen sind, aber über sich hinauswachsen, einen Schritt nach dem anderen gehen, wieder zusammenfinden und einen Weg finden.

Ich könnte Ihnen so viele Beispiele sagen, und Sie werden mir noch viel mehr Beispiele sagen können, wo Sie erlebt haben, dass ein Mensch über sich hinausgewachsen ist. Dass ein Mensch unvernünftig geworden ist und sich damit entschieden hat: Ich möchte, dass der Lauf meiner Familie, der Lauf meines Lebens, der Verlauf meines Kindes und des Menschen, den ich liebe und der mir anvertraut ist, anders verläuft. Dafür werde ich mit einem Maß messen, das großzügiger ist. Dafür werde ich nicht mit dem Maß messen, an dem ich gemessen worden bin, sondern so, wie ich immer erhofft habe, dass ich gemessen worden wäre.

Und das haben wir nicht nur in der Familie oder im persönlichen Umfeld, das haben wir auch in der Geschichte unseres Landes erlebt. Ich weiß nicht, ob ihr, die ihr in diesem Jahr zur Firmung geht, schon einmal eine D-Mark in Händen gehalten habt. Wenn, dann vielleicht als Sammlerstück - aber wir haben eine ganze Zeit lang nur mit D-Mark bezahlt.

Das war tägliches Portemonnaie, und die meisten von uns Deutschen waren damals absolut dagegen, als Helmut Kohl gegen den Rat der Bundesbank gesagt hat: „Das wird jetzt eingeführt, es wird den Euro geben, das wird Europa zusammenbringen. Wenn du täglich den Euro im Geldbeutel hast, dann wird eine Generation kommen, die wird gar nicht verstehen, wie das einmal gewesen ist, dass man in Italien umwechseln musste, in Frankreich, in Portugal. Die wird ganz selbstverständlich Europa im Geldbeutel tragen!“

Was ist über ihn gespottet worden, „die Birne aus der Pfalz“, und als damals durch einen Fehler des DDR-Regimes die Mauer offen gewesen ist, ist er niedergebrüllt und niedergeschrienen worden, als er denen, die auf einmal in die Freiheit konnten, zugerufen hat: „Wir lassen euch nicht allein, wir kriegen das hin!“

Und tatsächlich: Wir feiern an jedem 3. Oktober, dass wir eine Einheit geworden sind, weil Menschen daran geglaubt haben, dass es geht, eine Mauer abzutragen. Wie viel Häme und  Spott musste sich Willy Brand anhören, als er 1970 im Warschauer Ghetto auf die Kniee ging und damit die Versöhnung mit dem Osten, mit Polen, eingeleitet hat, einen Weg eröffnet hat der völlig bisher verbaut gewesen war.

Wir haben erlebt, dass Politikerinnen und Politiker über sich hinausgewachsen sind und auf einmal Visionen von Freiheit, von Europa gehabt haben, an die vorher niemand gedacht hat. Warum soll das heute nicht wieder passieren? Warum soll es nicht möglich sein, dass wir heute Abend erleben, dass die Frauen und Männer der demokratischen Mitte, die sich nicht den Autokraten und Imperialisten an den Hals schmeißen, sondern die daran glauben, dass Europa fähig ist, über sich hinauszuwachsen? Warum soll das heute nicht wieder passieren?

Wenn sie spüren, dass sie von uns gestärkt sind, und wir ihnen das zutrauen, was wir im Familiären erlebt haben (dass ein Mensch über sich hinauswachsen kann) – warum sollte dann nicht auch eine Partei über sich hinauswachsen kann, warum sollte nicht Europa über sich hinauswachsen? Warum soll das heute unmöglich sein?

David ist über sich hinausgewachsen und Mensch geblieben. Wir haben das in unseren

Familien erlebt und wir können beobachten, dass Frauen und Männer über sich

hinausgewachsen und Mensch geworden sind.

Caspar David Friedrich hat das in ein unglaubliches Gemälde gebannt, dieses Zutrauen Gottes, dass ein Mensch über sich hinauswächst. Wir haben es heute in der Hand, der demokratischen Mitte zuzutrauen, dass Deutschland mitten in Europa über sich hinauswächst und wir den Autokraten und den Imperialisten dieser Zeit zeigen:

Man kann Mensch bleiben, man kann die Würde bewahren, man kann gerecht und mit Zusammenhalt eine Vision entwerfen.

Amen