Predigt Pfarrer Dr. Givens vom 13.10.24:Lass los und werde frei
Verzicht für Frieden
Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,
weil er 13 Tage lang jeden Mittag eine weiße Schürze angezogen hat und gemeinsam mit den Frauen in Bergamo Polenta gekocht und gerührt hat, teilte ihm der Nachfolger seines Chefs mit, dass er für ihn keine Verwendung mehr habe. Ein Priester, der Polenta kocht und mit den Streikenden auf die Barrikaden geht, könne nicht sein Sekretär sein; er könne gehen.
Ein dreiviertel Jahr weiß er nicht, was er tun soll, bis man ihn schließlich nach Rom schickt – mit der Bemerkung, er sei unzuverlässig und halte es mit den Kommunisten. In Bergamo habe man keine Verwendung für ihn. Die Frauen, mit denen er Polenta gekocht hatte, um ihnen in den Streiktagen beizustehen, vergaßen ihm jedoch nie, dass er für sie da war.
Eines Morgens wurde er gerufen und in einer Seitenkapelle des Petersdoms zum Bischof geweiht. Zwei andere Bischöfe, die irgendwo im Vatikan tätig waren, weihten ihn; es sollte kein großes Aufsehen erregen, und kein besonderer Bischof sollte ihm die Hände auflegen. Man musste ihn nach Bulgarien schicken, weil man niemand anderen fand, der bereit gewesen wäre, dorthin zu gehen. Sollte es schiefgehen, wäre er es gewesen, der seine Ehre verloren hätte.
In Bulgarien angekommen, ist das Erste, was er sagt: „Ich bin zwar Erzbischof, lieber Patriarch, aber ich bin gekommen, um von der bulgarischen orthodoxen Kirche zu lernen. Ich weiß nicht, was ihr braucht, aber ich möchte es von euch lernen.“ Der Patriarch war mehr als überrascht, da der römisch-katholische Vorgänger dieses Bischofs hatte gehen müssen, weil er sich ständig in Bulgariens innere Angelegenheiten eingemischt hatte.
Als in Griechenland ein Erdbeben viele Dörfer zerstörte, sattelte er einen Esel, belud ihn mit allem, was es im bischöflichen Haushalt gab, räumte sämtliche Kassen und machte sich auf den Weg in die betroffenen Dörfer. 14 Tage lang verteilte er dort alles, was er irgendwie zusammenkratzen konnte. Staubig, dreckig und ungewaschen wurde er mehr als einmal aufgehalten, da man ihn für einen Vagabunden hielt. Er musste sich jedes Mal bemühen zu beweisen, dass er der Apostolische Legat für Bulgarien, Griechenland und die Türkei war.
Als in der Türkei eine Gruppe von Juden festsaß, die durch ganz Europa geflohen war und versucht hatte, dem Holocaust zu entkommen und nach Palästina zu gelangen, inhaftierten die türkischen Behörden sie und wollten sie an die Deutschen ausliefern. Er setzte sich hin, schrieb an den Vatikan und erhielt eine negative Antwort. Daraufhin schrieb er, diese Männer und Frauen seien getaufte Deutsche auf Pilgerfahrt des Heiligen Paulus nach Tarsus, und man solle sie passieren lassen. Die türkischen Behörden akzeptierten die Taufbescheinigungen, ließen die Gruppe frei und retteten damit ihr Leben.
Er aber verlor seinen Posten, weil er „falsche Taufbescheinigungen“ ausgestellt hatte. Pius XII. beorderte ihn zurück in den Vatikan.
Johannes der Dreiundzwanzigste ist sich immer treu geblieben, doch er hat nie materiellen Reichtum erlangt. In Bergamo konnte er eine Kochschürze anziehen und wusste dennoch, wer er war. Er legte jegliche priesterliche Würde ab, um den Frauen und Streikenden eine Hilfe zu sein. In Bulgarien stellte er seine erzbischöfliche Macht beiseite und ließ das, was für den Vatikan wichtig war, hinter sich, um den Dialog mit den Orthodoxen zu ermöglichen und verschlossene Wege zu öffnen.
In der Türkei war er bereit, alles beiseitezulassen, was das Kirchenrecht sagte, um den Menschen Freiheit zu schenken. Johannes der Dreiundzwanzigste verstand, dass jemand, der in einer Begegnung mit anderen nur an seinem Besitz festhält, traurig daraus hervorgeht. Wer in Gesprächen auf seinem Recht beharrt und Verletzungen nachträgt, wird aus diesen Begegnungen traurig herauskommen. Oft gibt es Situationen, in denen es notwendig ist, selbst arm zu werden, damit eine Angelegenheit sich durch das sprichwörtliche Nadelöhr zwängen kann, damit eine Auseinandersetzung in den Frieden führen kann.
Wer reich in ein Gespräch oder in die Liebe hineingeht, wird oft arm daraus hervorgehen. Nur wenn wir bereit sind, das loszulassen, wovon wir glauben, dass wir unbedingt Recht haben oder etwas besitzen müssen, können wir dem anderen auf Augenhöhe begegnen. Johannes der Dreiundzwanzigste blieb sich treu, doch er wusste, wann es wichtig war, loszulassen. Wenn er beleidigt wurde, ritt er nicht darauf herum, sondern übergab es Jesus und ließ Frieden zwischen sich und dem anderen wieder zu.
Unsere Kirche ist heute arm und traurig, weil sie in die Gespräche mit Missbrauchsopfern hineinging und an ihrem Ansehen festhielt. Das war der falsche Reichtum, an dem wir festhielten, und deshalb konnten wir den Opfern nicht zuhören. Eine Kirche, die an ihrem Ansehen und ihrer Macht festhalten möchte, wird traurig aus der Begegnung mit den Menschen hervorgehen. Und was für die Kirche gilt, gilt auch für die Politik und für Familien. Es gibt Dinge, denen wir treu bleiben müssen, die unser tiefstes Wesen ausmachen, doch viele Dinge können wir loslassen, auch wenn es schwerfällt und schmerzt, weil der Friede zwischen Geschwistern, Ehepartnern, Freunden und Völkern viel wertvoller ist als der Wunsch, Recht zu haben oder etwas unbedingt zu besitzen.
Frieden können wir in den Himmel mitnehmen, alles andere müssen wir auf Erden zurücklassen. Und am Ende wird Gott uns fragen, ob es das wert war, ein Leben lang Streit zu führen, ein Leben lang Krieg zu führen, oder ein Leben lang darauf zu bestehen, Recht zu haben – und ob es das wert war, den Frieden zu verschenken. Amen.