Zum Inhalt springen

Predigt Pfarrer Dr. Givens am 22.06.2025:Mit einem Schluck Wasser beginnt Nachbarschaft

Mit einem Schluck Wasser
Mit Brot und Wasser fängt Nachbarschaft an, mit Brot und Wasser fängt das Leben an. Mit Brot und Wasser öffnen sich Türen. Wer dem anderen das Wasser nicht gönnt, der wird keinen Frieden finden – egal, mit wem er verbündet ist, und egal, wie mächtig die Waffen sind.
Datum:
22. Juni 2025
Von:
Vincent Gutscher

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn.

Wenn man in Jerusalem das Damaskustor verlässt und durch den Ostteil von Jerusalem geht, dort, wo die arabisch-palästinensische Bevölkerung lebt, und dann an den Stadtrand von Jerusalem kommt und zu all den palästinensischen Dörfern, die es dort gibt, sieht man, wie sie von modernen jüdischen Siedlungen umringt sind und zu Inseln geworden sind. Wenn man dann immer tiefer hinunter in die judäische Wüste geht, dann kommt man an einen der ungewöhnlichsten Orte unserer Erde – den tiefsten Punkt, der an der Erdoberfläche zu erreichen ist. Man kommt in den Jordangraben, da, wo das sogenannte Tote Meer liegt, das so versalzen ist, dass darin kein Leben sein kann. Und wenn ein Mensch ins Wasser steigt, geht er nicht unter, weil der Salzgehalt dieses Toten Meeres so hoch ist.

Wenn man es verlässt, das Tote Meer, und in den Jordangraben hineingeht, dann sieht man schon die grünen Palmen von Jericho – der letzten Stadt, bevor es nach Jerusalem geht, bevor es den Jordan hineingeht, wo man noch einmal Wasser und Datteln bekommen kann, wo man noch einmal Leben tanken kann. Und dort, an dieser Stelle, wo der Jordan ins Tote Meer hineinfließt, da stand Johannes der Täufer, einer aus der Kumran-Sekte, einer von denen, die die anderen verlassen haben und gesagt haben: „Ich heilige mich selber. Ich möchte heilig werden. Ich möchte Gott finden. Ich möchte gerecht werden.“ Dieser Johannes tauft Jesus im Wasser des Jordan, er taucht ihn ganz unter. Als Jesus auftaucht, Luft schöpft, da hört er: „Du bist mein geliebtes Kind.“

Ich hoffe, das haben Sie als Eltern Ihren Kindern allen gesagt, dass sie am Tag der Taufe von Gott versprochen bekommen haben: Du bist ein geliebtes Kind Gottes. Und ich hoffe, dass Sie und wir das nicht nur den kleinen Kindern sagen, sondern auch den 11- und 12-Jährigen, und doch viel wichtiger: Den 15-, 16-, 17-Jährigen: „Du bist am Tag deiner Taufe ein geliebtes Kind geworden!“ Jesus hört das, und Jesus lebt von dieser Botschaft.

Wenn man dann den Jordan weiter hinauf verfolgt, dann kommt man an ein blaues Wunder - den See Genezareth. Was für ein Leben, was wächst da alles, was blüht da alles! Und wie viel Nahrung spendet dieser lebenspendende See – dort, wo Jesus seine Jünger gesammelt hat, dort, wo Maria von Magdala den Mut gefunden hat, Jesus nachzufolgen, gegen alle Konventionen der Zeit, dort, wo Petrus und Andreas, Jakobus, Johannes und Philippus gewagt haben, etwas ganz Neues in ihrem Leben auszuprobieren: Einem Rabbi hinterherzugehen und von Gott zu hören, zu sehen, wie Menschen heil werden, wie Menschen aufgerichtet werden, wie man auch von Gott sprechen kann – so ganz anders, als sie das in ihren Synagogen bisher gehört haben.

Geht man weiter den See Genezareth, dieses lebenspendende Wasser, hinauf, verlässt man dieses Gebiet im Norden Israels, wo im Moment kein Israeli leben kann, weil die Gefahr noch zu groß ist, dass Raketen aus dem Libanon hinüberkommen – dort, wo im Moment die ganzen Städte leer sind, weil keine Israelis dort leben können aus Angst vor dem, was von den Golanhöhen herunterkommen könnte. Geht man weiter hinauf, dann kommt man nach Banyas. Tausende Liter von Wasser strömen aus dem Boden heraus – die Quelle des Jordan. Und da, an dieser Quelle des Jordan, fragt Jesus seine Jünger: „Für wen haltet ihr mich? Wer bin ich für euch?“ Da sagen sie: „Du bist für uns der Christus. Du bist der Gesalbte.“ Darum heißen wir alle heute so: Wir sind Christen. Wir sind Gesalbte. Das wird uns bei der Taufe auf die Stirn geschrieben, das wird bei der Firmung noch einmal bekräftigt und wiederholt: „Du bist ein Christ. Du bist eine Gesalbte. Du bist ein Gesalbter.“

Und das hören wir auch bei der Krankensalbung – wenn jemand verschwitzt und verkrümmt im Bett liegt und das Leben zu Ende geht, dann schreiben wir auf die Stirn: „Du bist ein geliebtes Kind Gottes. Du bist ein Christ. Du bist gesalbt.“

Folgt man der Quelle weiter, dort, wo Millionen Liter Wasser hinunterfließen in den See Genezareth und durch den Jordangraben hinunterfließen nach Jericho, bis ins Tote Meer, sieht man, wie alle Wasser rausholen. Es ist längst ein Kampf ums Wasser entstanden, und die, die früher dort alle als Nachbarn leben konnten, diesseits und jenseits des Jordans, in Palästina, Israel und Jordanien – sie, die alle vom Wasser des Jordan gelebt haben, von der Quelle in Banyas, graben sich gegenseitig das Wasser ab. Es gilt längst das Recht des Stärkeren.

Und da wundern sich die einen, dass die anderen sagen: „Die sollen verschwinden. Die sollen hier nicht mehr leben.“ – ‚From the river to the sea‘, ‚Vom Jordan bis zum Meer‘, sollen sie verschwinden, die Israelis, weil die Palästinenser kein Wasser haben. Wie soll man als Nachbarn zusammenleben, wenn der eine dem anderen das Wasser abgräbt, wenn die Dattelpalmen vertrocknen? Wie soll man als Nachbarn gut miteinander sein, wenn die einen nur noch Salzwasser haben und die anderen frisches Wasser?

„Wer von euch einem von diesen Armen einen Schluck Wasser zu trinken gibt, einen Becher Wasser zu trinken gibt, der ist wahrhaftig mein Jünger.“ Jesus wusste das: Mit Brot und Wasser fängt Nachbarschaft an, mit Brot und Wasser fängt das Leben an. Mit Brot und Wasser öffnen sich Türen. Wer dem anderen das Wasser nicht gönnt, der wird keinen Frieden finden – egal, mit wem er verbündet ist, und egal, wie mächtig die Waffen sind.

Was haben wir in den letzten Wochen und Monaten gelernt über Bomben, über Langstreckenraketen, über Panzer, über bunkerbrechende Wasserwaffen, über Zentrifugen unter der Erde? Was haben wir in den letzten Wochen gelernt vom Tod – und wie wenig haben wir gelernt, einander das Wasser zu gönnen. Einander nicht das Wasser abzugraben, sondern es zuzulassen, dass die Palme des Nachbarn genauso wächst wie meine Palme.

Wie klein ist der Jordan geworden, weil alle das Wasser abgraben und weil die Stärkeren sich so viel Wasser nehmen, dass für die Schwächeren kein Wasser bleibt. Dort, wo Jesus getauft worden ist, dort, wo er gehört hat „Du bist ein geliebtes Kind“, dort ist heute nur noch eine stinkende Brühe. Da ist vom Jordan nichts mehr zu sehen – das ist nur noch ein Dreckrinnsal. Und das Tote Meer wird immer größer, weil kein Wasser mehr hineinfließt. Es wird immer tödlicher, weil kein gutes Wasser mehr hineinfließt.

Und dabei hat Ezechiel die große Vision gehabt: Eines Tages wird Wasser vom Altar in Jerusalem hineinfließen in das Tote Meer, und es wird heil werden, und es wird gesund werden. Es wird sich verwandeln, weil so viel gutes Wasser hineinfließt, dass es lebenspendend wird. Darum sind wir Christen:

Jesus hat daran geglaubt: Ich bin das lebendige Wasser. Er hat daran geglaubt: Ich bin wie ein Schluck lebendiges Wasser für die, die krank sind. Ich bin wie ein Schluck lebendiges Wasser für die, die schuldig geworden sind. Ich bin wie ein Schluck lebendiges Wasser für die, die sprachlos geworden sind. Ich bin ein Schluck lebendiges Wasser für die, die verfeindet worden sind.

Jesus hat daran geglaubt, dass dort, wo er hinkommt, das Versalzene und das Vergiftende im Herzen eines Menschen gut und heil wird. Und darum bezeugt ja auch Johannes: Aus der Seitenwunde Jesu floss Blut und Wasser. Jesus hat daran geglaubt, dass es möglich ist, eine versalzene Nachbarschaft oder eine vergiftete Atmosphäre durch das eigene Leben heil zu machen, gesund zu machen, zu verändern – nicht mit einem Mal, sondern durch geduldiges Fließen, so wie die Quelle in Banyas geduldig Wasser gibt und Wasser gibt und Wasser gibt, in der großen Hoffnung, dass die, die entlang des Jordan Wasser schöpfen, irgendwann kapieren: Wir können dort nur zusammenleben im Nahen Osten, wenn der eine Nachbar genauso einen Brunnen hat wie der andere Nachbar, wenn die Palme des einen genauso wachsen darf wie die Palme des anderen, wenn die, die in Jerusalem an der Klagemauer stehen, genauso dort beten dürfen wie die, die oben auf dem Felsendom beten. Wenn die, die in der Grabeskirche auf die Knie gehen, genauso sein dürfen wie die, die ohne Gott durchs Leben gehen.

Mit einem Schluck Wasser und einem Stück Brot beginnt Nachbarschaft und beginnt Leben. Darum sind wir Christen. Am Anfang unseres Lebens hören wir: „Du bist ein geliebtes Kind.“ Auf die Stirn wird uns geschrieben: „Du bist eine Gesalbte, du bist ein Gesalbter.“ Und Jesus glaubt daran, dass es tatsächlich möglich ist: Wenn so viele einzelne Christen zur Quelle werden, dann wird das Tote Meer lebendig.

Wir haben viel zu viel gelernt über todbringende Waffen – es wird Zeit, dass wir uns daran erinnern, dass wir lebenspendende Quellen sein können. Dass wir Christ*innen sind.

Amen.