Predigt Pfarrer Dr. Givens am 03.08.2025:Recht sprechen

Kirche muss für Recht eintreten
Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,
der neue Außenminister Wadephul hat jetzt auf seiner Kurzreise nach Israel und Palästina zwei Orte besucht, die für die Christen im Nahen Osten sehr wichtig sind. Zum einen Taipeh, da, wo der Überlieferung nach Jesus Rast gemacht hat – eines der wenigen gänzlich christlich-palästinensischen Dörfer, das darunter leidet, dass es andauernd von Siedlern, jüdischen Siedlern überfallen wird. Die Christen dort werden bespuckt, ihre Kirche wird beschmiert, sie werden zutiefst respektlos terrorisiert, um sie zu vertreiben. Dabei reicht die Geschichte von Taipeh weit, weit bis in die vorchristliche Zeit hinein, und die Christen hatten dort schon sehr früh eine kleine Kirche, einen Versammlungsort.
Der zweite Ort, den Wadephul besichtigt hat, war die Dormitio-Abtei in Jerusalem. Auch dort gibt es jeden Tag Schmierereien an den Wänden. Die Ordensbrüder und -schwestern werden angespuckt, die Läden und die Kirchen immer wieder auch zerstört. Wadephul fordert an diesem Ort Respekt für die, die einen anderen Glauben haben, für die, die auch Wurzeln im sogenannten Heiligen Land haben. Wenn man in der Dormitio-Abtei hinuntersteigt in die Krypta, dann sieht man einen Ort, der von deutschen Künstlern gestaltet worden ist. Da liegt aufgebahrt eine Figur, symbolisch für Maria. Der Überlieferung nach soll das der Ort sein, an dem die Himmelfahrt Mariens – das, was wir am 15. August feiern – stattgefunden hat.
Und wenn man sich neben diese Skulptur von Maria stellt und hinaufschaut, dann sieht man die Prophetinnen des Alten Testamentes. All die Frauen, die in irgendeiner Weise Vorbild gewesen sind für Maria, die Mutter Gottes. Und unter diesen Frauen, die da im Mosaik dargestellt sind, ist auch Deborah – eine Richterin.
Was war das für ein langer Weg für das Volk Israel, dass nicht mehr die Familien untereinander, nicht mehr die Clans, nicht mehr der Einzelne entschieden hat, was richtig ist und was recht ist, sondern dass man sich auf den Weg gemacht hat und gesagt hat: Das legen wir einem Richter, das legen wir einer Richterin vor. Der oder diejenige soll uns Recht sprechen, damit wir uns nicht in den Emotionen, damit wir uns nicht in den eigenen Begrenzungen verfangen und verheddern. Damit nicht die Habgier, die Rechthaberei, die Besserwisserei von unserem Herzen Besitz ergreifen. Und so wussten die Menschen im alten Israel: Oben im Gebirge, unter einer Palme – der sogenannten Deborah-Palme – saß eine Frau. Eine Richterin. Sie sprach Recht. Menschen zogen hinauf zu ihr. Nicht, weil sie gezwungen wurden, sondern weil sie ihr zutrauten, gerecht zu urteilen. Andere Richter saßen am Stadttor – dort, wo das Leben tobte, wo man sich begegnete, wo Verantwortung sichtbar war.
Darum gibt es bis heute eine Vorschrift für Kirchen: Es muss eine sichtbare Türschwelle geben. Denn einst galt: Wer die Türschwelle einer Kirche mit dem Fuß überschritten hatte, hatte ein Anrecht – ein Anrecht auf ein faires Verfahren. Kein Urteil ohne Gehör. Kein Urteil ohne Recht. Die Kirche sollte ein Ort sein, an dem niemand verurteilt wird, ohne dass ihm Gerechtigkeit widerfährt. Dafür steht die Türschwelle. Und dafür steht der Altar.
Fünf Kreuze sind darin eingeritzt – sichtbare Zeichen der Weihe, eingebrannt wie Narben. Vier davon erinnern an die Hörner des Altars im Alten Testament. Denn dort hieß es: Wer eines dieser Hörner berührt hatte, durfte nicht ohne faires Verfahren verurteilt werden. Doch die Kirche hat vergessen, was sie einmal war: Anwältin des Rechts.
Das kirchliche Arbeitsrecht? Eine Katastrophe. Nur öffentlicher Druck hat es in kleinen Schritten verändert – doch es ist noch immer meilenweit vom weltlichen Recht entfernt. Arbeitszeiten? Oft menschenunwürdig. Wie viele gehen zugrunde in dieser Kirche, weil grundlegende Rechte nicht eingehalten werden? Weil es keine Arbeitszeiterfassung gibt? Weil sich niemand an das hält, was Recht ist?
Die Kirche hat vergessen, dass man ihr einmal zutraute: Wenn die Welt kein Recht mehr spricht, dann sprecht ihr es. Ihr – weil euer Gericht mit Jesus zu tun hat. Ihr – weil ihr für Gerechtigkeit sorgen sollt.
Deborah – die Richterin unter der Palme – sie lebte davon, dass Menschen ihr zutrauten, Recht zu sprechen.
Und wie glücklich dürfen wir heute sein, dass wir ein Verfassungsgericht haben. Dass es Frauen und Männer gibt, die über unsere Grundrechte wachen. Dass sie sicherstellen: Jeder Mensch in diesem Land hat eine Würde. Und diese Würde darf nicht verletzt, nicht angetastet, nicht zerstört werden – durch kein Gesetz, durch keine Macht, durch niemanden.
Selbst die Feinde unseres Staates, unseres Gemeinwesens – auch sie stehen unter dem Schutz, den uns die Mütter und Väter des Grundgesetzes ins Stammbuch geschrieben haben. Wie wichtig ist es da, dass wir die Menschen, die das Richteramt ausüben, mit Respekt behandeln. Wer sich die Debatten über die Wahl der Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht angeschaut hat, der musste erleben, wie entwürdigend manche Diskussion war – wie respektlos.
Doch: Wer Recht spricht, braucht Vertrauen. Wer Gerechtigkeit schützen soll, verdient Achtung. Da ist etwas in den politischen Diskurs hineingedrungen, was unsere ganze Gesellschaft zu zerstören droht: die Respektlosigkeit, dass man ungeprüft über Menschen etwas sagen kann, etwas behaupten kann, das dann in den Medien und in den asozialen Medien aufgegriffen und weiter geteilt wird.
Respekt hat etwas mit Menschenwürde zu tun. Und so, wie man mit dieser Wahl umgegangen ist und mit dieser Wahl immer noch umgeht, wird es höchste Zeit wieder zu verstehen, dass unser Zusammenleben nur funktioniert, wenn wir Respekt voreinander haben, wenn wir vor allen Dingen Respekt vor denen haben, die ein öffentliches Amt übernehmen – als Politikerinnen und Politiker, als Richterinnen und Richter in so vielen Bereichen unseres Lebens. Die dort, wo wir in Gefahr sind, dass wir gefangen sind in unserer kurzen Sicht, in unseren Emotionen, über die Emotion, über die Kurzsichtigkeit hinausschauen und einen Weg finden, wie es gerecht zugehen kann.
Zwei Brüder haben gemeinsam ein Feld bestellt. Am Abend, als die Ernte eingebracht ist, da teilen sie gerecht miteinander, was sie geerntet haben, und jeder trägt in seine Scheune die Ernte des Tages. In der Nacht liegen die beiden auf ihrem Bett, und der eine von den beiden überlegt: Ich lebe allein. Mein Bruder hat aber eine Familie, er muss um viel mehr sich kümmern und sorgen. Und so steht er mitten in der Nacht auf, nimmt einen Teil der Ernte und reckt die Ernte heimlich hinüber in die Scheune des Bruders, der Familie hat. So legt er sich ins Bett und kann beruhigt einschlafen.
Der andere Bruder liegt ebenfalls im Bett. Die Kinder und die Frau sind im tiefen Schlaf. Aber er wälzt sich hin und her, denn er überlegt sich: Mein Bruder lebt alleine. Da ist kein Kinderlachen. Da ist niemand, der ihm das Bett wärmt. Er muss sich alleine durchs Leben schlagen. Er braucht mehr von der Ernte als ich. Und so steht er in der Nacht heimlich auf und nimmt einen Teil der Ernte, läuft hinüber zur Scheune des Bruders und legt einen Teil der Ernte zur Ernte des Bruders. Als sie am nächsten Morgen aufwachen, erstaunen die beiden Brüder, denn jeder hat so viel, wie er braucht.
Wir haben alle ein gutes Gespür dafür, was gerecht ist. Wir haben das als Kinder gelernt. Wir sind da hineingewachsen. Wir sehen an anderen, was gerecht ist. Wir haben ein Herz, das uns das sagt, was richtig ist.
Einen Richter und eine Richterin brauchen wir eigentlich nur, wenn das Herz nicht mehr hörend ist. Einen Richter und eine Richterin brauchen wir eigentlich nur, wenn andere alle Grenzen überschreiten. Aber bis dorthin weiß jeder und jede von uns ganz genau, was richtig ist. Wir haben ein gutes Gespür dafür, was der andere braucht, was wir wirklich brauchen. Wir haben eine gute innere Stimme, die uns sagt: Das kann ich teilen.
Und wenn wir unsicher sind, darum gehen wir zur Kommunion. Da kommt einer, der hat am Ende alles Recht auf seiner Seite. Er ist unschuldig und wird als Verbrecher hingerichtet. Und was macht er? Er verschenkt sein Leben. Er verschenkt alles, was er hat. Und er fragt heute Morgen nicht nach bei keinem und bei keiner von uns: Bist du würdig oder bist du unwürdig? Steht dir das zu oder steht dir das nicht zu? Sondern er sagt jeder und jedem von uns: Ich schenk dir alles, was du hast, damit du nicht habgierig wirst, dass dein Herz frei bleibt von der Gier, etwas haben zu müssen, damit dein Herz hörend bleibt, damit du das, was du von klein auf gelernt hast – was richtig und was gerecht ist – dass du das wieder hörst und deinem Herzen vertraust.
Amen.