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Predigt Pfarrer Dr. Ronald Givens am 28.09.2025:Türen öffnen

Caritas öffnet Türen
Predigt zum Festgottesdienst „50 Jahre Caritas-Sozialstation Viernheim“. Türen öffnen, Keil sein damit sie offen bleibt und akzeptieren wenn Lebenstüren sich schließen.
Datum:
29. Sept. 2025
Von:
Ronald Givens

Türen öffnen

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

Sie haben die Tür geöffnet und gleich noch einen Keil hineingeschoben, damit sie auch offen bleibt. Ich weiß gar nicht, wie viele Türen zu ihrem Leben dazugehören. Die Tür vom Auto, wenn sie die Dementen einladen, um sie zum Treffen zu bringen. Die Tür morgens in der Jägerstraße. Die Tür bei den Kranken. Wie viele Türen gehören zu ihrem Leben und wie viele Türen sind wahrscheinlich geöffnet worden? Gott sei Dank, dass Sie da sind.

Und andere: Ich mach vor zehn Uhr nicht auf. Und wieder andere: Ich zieh meinen Rock nicht aus und ich wechsel die Windel auch nicht. Und wieder andere: Ich fahr nicht mit. Sie kennen nicht nur die offenen Türen, Sie kennen auch die geschlossenen Türen. Sie kennen die Türen der Antragsformulare und Sie kennen auch die Türen der abgelehnten Bescheide. Sie kennen so viele Türen, und wahrscheinlich sitzen heute Morgen hier ganz viele dabei, die dankbar sind, dass Sie einmal bei ihnen angeklopft haben, weil sie am Ende der Kraft gewesen sind und weil Sie geholfen haben, dass die Kraft noch ein bisschen weiter reicht. Wahrscheinlich sitzen hier ganz viele, die wissen: Ja, ich bin froh, dass die morgen früh wiederkommen, dass die da sind, dass die nicht nur Gottesdienst feiern, sondern dass die dann auch Alltag feiern und dass die da sind.

Manch einer wird sich daran erinnern, wie Sie auch geholfen haben zu sehen: Es geht zu Ende, die Lebenstür schließt sich. Oft sind Sie es, die das ins Wort bringen, was mancher Arzt und mancher Angehöriger nicht sagen will und nicht sagen kann. Die Lebenstür schließt sich, nimmt Abschied. Auch dazu gehört viel Kraft, zu sagen: Die Tür schließt sich. Wahrscheinlich ist Ihnen auch die ein oder andere Tür vor der Nase zugeknallt worden, auch das gehört dazu.

Und wir feiern Ihr Jubiläum, dass Sie fünfzig Jahre lang hier in Viernheim alle möglichen Türen kennengelernt haben, alle möglichen Türen geöffnet haben. Hier sind ganz viele, die auch mitgeholfen haben in der Politik, in der Kirche, in der Nachbarschaft, Ihnen die Türen offen zu halten. Die wollen heute alle mit Ihnen feiern.

Wir feiern dieses Jubiläum in einer Zeit, in der viele die Türen zumachen wollen. Die Haushaltsdebatte im Bundestag hat es gezeigt: Wie weit können wir die Türen offenhalten, wie weit wollen wir sie offenhalten? Und selbst die, die überzeugt waren oder überzeugt sind von dem Satz, den ich nach wie vor für richtig halte: Wir schaffen das, haben sich die Diskussion aufzwängen lassen von der AfD. Ob wir die Türen offen halten, ob wir sie nicht schließen müssten. Und wer die UNO-Vollversammlung aufmerksam beobachtet hat: Mittlerweile ist es eine Minderheit von Staatenlenkern, die sagen: Der Erde geht die Luft aus, wir dürfen die Türen nicht schließen, wir müssen zueinander, zur Nachbarschaft, die Türen offen halten. Da dürfen nicht nur Grenzen sein, da darf nicht nur die Nation sein, da darf nicht nur das Ich sein, da braucht es auch offene Türen.

Aber wenn das so einfach wäre. Sie kennen das, wenn die Sekunde tickt, um Ihnen zu sagen: Du musst jetzt eigentlich schon beim nächsten Patienten sein. Sonst wird das Ganze unwirtschaftlich. Sie kennen das, wenn Sie am Ende des Monats hinschauen: Sind wir hingekommen mit dem Geld? Das ist im Kleinen gar nicht anders als bei der Bundesregierung, als in allen Lebensbereichen. Für was halte ich die Tür offen und wo muss ich den Mut haben zu sagen: Das kann ich nicht mehr, das geht nicht mehr.

Und meine Generation und ganz viele von denen, die hier sitzen, die entweder eine Glatze kriegen oder grauhaarig werden, die müssen sich jetzt auch überlegen: Wie werden wir denn mit unserer Gesellschaft umgehen? Gehen wir jetzt einfach alle in die Rente und genießen das, was wir erarbeitet haben? Oder begreifen wir, dass es ohne unser Engagement nicht geht? Da sitzen auch die vielen Ehrenamtlichen in der Caritas, in der Schule und in der Gesellschaft, in ganz vielen Lebensbereichen. Unsere Systeme würden kollabieren, wenn wir nicht Türen öffnen würden, auch dann noch, wenn wir in Rente gegangen sind, auch dann noch, wenn wir eigentlich in der Freizeit sind. Unsere Gesellschaft braucht nicht nur die professionelle Caritas, sondern auch die Herzens-Caritas, die Caritas, die an ganz unterschiedlichen Orten in unserer Stadt gelebt wird.

Welche Türen wollen wir offenhalten? Wofür haben wir noch die Kraft? Was geben wir? Wo sind wir Keil, damit eine Tür nicht zufällt? Das kann die Caritas nicht alleine leisten. Das geht nicht. Das kann der Staat überhaupt nicht leisten. Das geht nicht. Wenn alle sagen: Ich bin nicht der Keil, soll doch die Tür zufallen oder sogar dafür plädieren: Schlagt doch die Türen zu, kürzt doch das Bürgergeld, kürzt doch diese oder jene Leistung, kürzt doch, dann verändert sich unser Miteinander.

Sie sind gegründet worden, damit es ein gutes Miteinander bleibt. Sie sind gegründet worden, nicht um der Ersatz zu sein für die Familie, für das Ehrenamt.

Für das Engagement, für die Verantwortung, sondern sie sind gegründet worden, um die Grenzen zu überwinden. Dort, wo die Familie an die Grenze kommt, sind sie da, dass die Tür nicht ins Schloss fällt. Dort, wo der Formulardschungel an die Grenze führt, da sind sie da, um dem Recht eine Chance zu geben. Dort, wo an der ein oder anderen Stelle der Blick der Betroffenen fehlt, sind sie gegründet worden, um den Mund aufzumachen, um ihre Sichtweise einzubringen in den unterschiedlichen Ebenen unserer Gesellschaft.

Aber sie sind nicht der Ersatz für uns, dass wir Keil sind, dass Türen nicht zufallen, sondern sie sind immer wieder nur die Mahnung an uns. Es braucht alle, es braucht jeden Einzelnen, es braucht jede Einzelne, damit eine Kirche, damit eine Gesellschaft, damit ein Staat, damit eine Familie, damit eine Gemeinschaft, eine Nachbarschaft nicht überfordert ist.

Vor gar nicht so langer Zeit, da hat einer erfahren, dass ihm die Türen zugeschlagen worden sind. Ernst Barlach, ein Künstler in Deutschland, hat eine wunderschöne Figur geschaffen und er war stolz, dass sie in der Kirche aufgehängt worden ist. Keine drei Jahre später, nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen haben, hat ihm dieselbe Kirchenleitung, die noch mit großem feierlichem Gottesdienst diese Figur aufgehängt hat, gesagt: „Dafür ist jetzt kein Platz mehr. Das passt nicht mehr in unsere Zeit.“ Da wurde ihm die Tür endgültig zugemacht.

Da hat er einen Freund, einen evangelischen Pfarrer, gefragt: Was will denn nun Jesus? Was ist denn nun richtig? Was ist Zeitgeist und was ist Heiliger Geist? Da hat der Pfarrer ihn mitgenommen in die Kirche, hat sich neben Barlach gesetzt, dann haben die beiden eine Stunde lang geschwiegen. Und zum Abschluss hat der evangelische Pfarrer ihm gesagt: „Wenn du gar nicht mehr ein und aus weißt, dann geh in die Stille, dann setz dich der Stille aus, dann wird Christus dir sagen, was richtig ist.“

An wie vielen Betten sitzen Sie und hören zu? Und manchmal schweigen Sie auch, weil es das braucht, dass das Herz hören kann. Und manchmal sind Sie selbst der arme Lazarus, der vor der Tür liegt, weil Sie abends fertig sind, weil es zu viel gewesen ist, weil die Wunden schwären und weil es hinten und vorne nicht reicht.

Und wir als Gesellschaft, wir ringen jetzt darum, wo sind wir Lazarus und wo sind wir die Reichen. Das ist gar nicht so klar. Nachher gibt es einen Festakt. Schön wäre es, wir könnten uns neben die Politiker setzen und miteinander eine halbe Stunde schweigen. Und dann würden uns die Politiker sagen, welche Not es bedeutet, einen Haushalt zu beraten. Und wir würden zuhören und nicht urteilen. Eine halbe Stunde neben sie zu sitzen und zuhören und schweigen und zu hören, was es bedeutet, auf die Uhr zu schauen und zu wissen: Ich würde jetzt gern noch eine Weile bleiben.

Es gibt so viele Lebensbereiche, da ist es gar nicht so eindeutig, wo wir Lazarus sind und wo wir der Reiche sind. Ob wir selbst vor der Tür liegen oder ob es in unserer Hand liegt, die Tür zu öffnen. Aber wir alle sind in der Lage, ein hörendes Herz zu haben. Wir alle sind in der Lage zu hören: Jetzt muss ich Keil sein. Wir alle haben ein gutes Gespür dafür, wo wir Keil sein müssen und Keil sein können. Und wenn wir dieses Gespür verloren haben, im Dauergeschrei des Politikbetriebes, im Leistungsdruck auch der Pflege, dann muss es irgendwo auch die Möglichkeit geben, es wie Barlach zu machen, hinzusetzen und auf das eigene Herz zu hören.

Sie haben das Caritas-Zeichen auf Herzhöhe, Sie immer wieder daran zu erinnern: Du weißt mit deinem Herzen ganz gut, wie das geht. Wir anderen tragen das vielleicht nicht so offensichtlich, aber wir alle haben ein Herz. Und wir alle sind in der Lage zu spüren: Jetzt muss ich Keil sein, damit die Türe nicht zufällt. Und jetzt muss ich mutig sein, damit die Türe geöffnet wird. Und jetzt muss ich vielleicht auch den Mut haben zu sagen: Die Tür kann ich nicht öffnen, aber vielleicht gibt es jemand anderen, der Zeit und Kraft hat, um diese Tür zu öffnen.

Dankeschön für fünfzig Jahre Tür öffnen. Dankeschön, dass Sie ab und zu Keil sind. Und Dankeschön, dass Sie sich immer wieder neben Jesus hinsetzen, wenn er dement ist, wenn er pflegebedürftig ist, wenn er nicht weiß, wie man ein Formular ausfüllen muss, wenn er Dienstpläne machen soll, dass Sie ihm zuhören. Amen.