Diesen Mann kennen alle: Er sieht den Bettler, holt sein Schwert heraus - und teilt seinen Mantel in zwei Teile. Eine Mantelhälfte gibt er dem Bettler, dann reitet er weiter. Sankt Martin, der Heilige Martin. Kein Wunder, dass Heilige als ‚Spitzenathleten' des Glaubens gelten. In ihrem Handeln unerreichbar für den Durchschnittschristen.
Dabei wird allerdings vergessen: Das Neue Testament bezeichnet alle Christen als Heilige. Sie sind heilig, weil sie durch Taufe und Glauben in besonderer Nähe zu Gott stehen. Im Begriff des Heiligen verbinden sich also Handeln und Da-Sein des Menschen. Das Bild von den Heiligen als ‚Superchristen' ist gerade deshalb schief.
Heilige sind alle Menschen, die sich an Gott orientieren und fragen, was diese Orientierung für das tägliche Leben bedeutet, für ihren ganz konkreten Alltag. Die Rede von ‚den' Heiligen bleibt trotzdem richtig, wenn damit exemplarische Menschen gemeint werden, die den Glauben an Gott durch ihr Dasein und ihr Leben bezeugen.
Heilige, das sind im Volksmund Menschen, die in besonderer Weise ihren Glauben leben. Menschen wie Mutter Teresa und Sankt Martin, Maximilian Kolbe und Elisabeth von Thüringen. Sie helfen Kranken, teilen, was sie haben, setzen sich für andere ein und ihr Leben für sie aufs Spiel.
Doch das Neue Testament bezeichnet viel umfassender alle Christen als Heilige (Apostelgeschichte 9,13; Römerbrief 8,27). Der Epheserbrief beginnt zum Beispiel: „Paulus (...) an die Heiligen in Ephesus, die an Christus Jesus glauben." (Epheser 1,1). Sie sind heilig, weil sie durch ihren Glauben und die Taufe in besonderer Nähe zu Gott stehen. Hier kommt die Grundbedeutung von »heilig« zum Tragen. Heilig hat im Deutschen die Grundbedeutung von „eigen" und bezeichnet also das, was Gott eigen ist, das zu Gott gehörende. Deshalb ist auch, ganz knapp formuliert, jeder Christ heilig, weil er Christ ist.
Doch schon im zweiten Jahrhundert verändert sich diese Vorstellung. Jetzt werden die Menschen als heilig bezeichnet, die in besonderer Weise den christlichen Glauben leben und danach handeln. Interessanterweise entsteht die Verehrung der Heiligen unter den ersten Gläubigen - sie ist kein Produkt des kirchlichen Lehramtes, sondern entwickelt sich aus der Kirche von unten. Zunächst sind das Märtyrer, Menschen also, die wegen ihres Glaubens verfolgt und umgebracht werden. Dann gelten auch Asketen oder Einsiedler als Heilige, Menschen also, die sich zurückziehen und ihr Leben der Suche nach Gott im Gebet und in der Meditation widmen. Später kommen Mönche und Nonnen, Könige und Bischöfe, Theologen und Ordensgründer hinzu. Das Handeln dieser Menschen ist entscheidendes Kriterium für ihre Heiligkeit. Eine folgenschwere Verengung. Denn Heiligkeit wird damit auf Moral, auf persönliche Leistung, auf das Tun reduziert. Kein Wunder, dass nur wenige Menschen, die mitten im ganz normalen Leben stehen, zu Heiligen erklärt wurden.
Erst im 20. Jahrhundert setzte hier in der Katholischen Kirche ein Umdenken ein. Heiligkeit, das betont das Zweite Vatikanische Konzil, verlangt keine Spitzenleistungen des Glaubens. Heiligkeit entfaltet sich in den verschiedenen Verhältnissen und Aufgaben des Lebens. Im ganz alltäglichen Leben, im Beruf, der Familie, der eigenen Lebenssituation kommt also Heiligkeit zum Vorschein: Sie vollzieht sich durch die Selbst-, die Nächsten- und die Gottesliebe.
Dieses Verständnis der Heiligen ist keineswegs nur der Moderne geschuldet. Es ist auch nahe an den Heiligen selber. Denn wer die Lebensläufe und Legenden von und über Heilige liest, der kann sich verwundert die Augen reiben. Das Leben vieler Heiliger erscheint auf den ersten Blick wenig heilig. Heilige erfahren Lebenskrisen und tiefe Hoffnungslosigkeit, sehen sich von Gott verlassen und zweifeln an ihrem Glauben, sie erleben nackte Angst und hadern mit ihrem Gott. Heilige sind Menschen, die auf ihrem ganz persönlichen Weg der Suche nach sich selbst, dem Nächsten und Gott Höhen und Tiefen erleben.
Trotzdem hat sich heute die Rede von ‚den' Heiligen gehalten. Historisch ist »Heilige« oder »Heiliger« ein Titel. Ihn erhalten Christen, die in besonderer Weise verehrt werden. Wichtigstes Zeichen dieser Verehrung: ihre Knochen werden in einen Kirchenaltar beigesetzt. Das ist gemeint, wenn traditionell von der Erhebung der Heiligen „zu Ehren der Altäre" gesprochen wird. Darüber hinaus werden die Knochen auch in den unterschiedlichsten kunstvoll gestalteten Schreinen aufbewahrt. Hinzu kommt ab dem 10. Jahrhundert das Heiligsprechungsverfahren (Kanonisation) durch die Bischöfe, das seit dem 16. Jahrhundert allein dem Papst vorbehalten ist. Dieses Verfahren ist zweistufig. Zunächst wird ein Mensch selig gesprochen. Hier wird zunächst durch eine aufwändige Prozedur der Lebenswandel des „Kandidaten" geprüft. Außerdem gehört der Nachweis eines Wunders, das auf den Heiligen zurückgeht, zum Seligsprechungsverfahren. Die erfolgte Seligsprechung ermöglicht es, dass der Selige in einem klar umgrenzten Raum verehrt werden kann: in einer Stadt, einer Region, einer Ordensgemeinschaft oder einer Kirche. Ein heilig gesprochener Mensch kann dagegen in der gesamten Katholischen Kirche verehrt werden.
Allerdings muss festgehalten werden: Die Heiligenverehrung ist keine religiöse Pflicht. In der Katholischen Kirche gilt sie als „gut und nützlich" - mehr nicht. Ebenso ist festzuhalten: Die Verehrung der Heiligen unterscheidet sich radikal von der Anbetung Gottes. Das heißt: Die Verehrung oder auch Anrufung eines Heiligen kann immer nur das Ziel haben, auf Gott hinzuweisen, Gott durch die Heiligen neu zu entdecken. Insofern können die Heiligen auch nicht benutzt werden, bei Gott ‚ein gutes Wort' für die Menschen einzulegen. Der Ruf „bitte für uns" weist auf die umfassende Solidarität aller Christen hin - über alle Zeiten hinweg.
Diese doppelte Klärung ist gerade mit Blick auf die Ökumene bedeutsam. Denn die evangelischen Kirchen kennen keine Heiligenverehrung. Grund dafür sind vor allem die Missstände der Heiligenverehrung im Spätmittelalter. Als Glaubenszeugen allerdings sind die ‚Heiligen' auch etwa Martin Luther wichtig gewesen.
Heilige - wie Mutter Teresa und Martin, Maximilian Kolbe und Elisabeth von Thüringen - können in diesem Sinn auch heute noch wichtig sein: Als Glaubenszeugen und Glaubensvorbilder. Sie können Lebensorientierung bieten. Und sie symbolisieren, dass die Geschichte des christlichen Glaubens nicht nur in der Geschichte der Kirchen, sondern auch in der Geschichte der Glaubenden fortgeschrieben wird.
Autor(en): Thomas Laubach