Sie gilt in der katholischen Kirche als das moralisches Vorbild schlechthin: Maria. Denn sie ist zeitlebens „ohne Sünde" geblieben. Sünde und Moral - diese Begriffe hängen bis heute für viele zusammen. Dabei ist Moral in der theologischen wie philosophischen Tradition ein neutraler, beschreibender Begriff. Moral nennt man die Gesamtheit von Ge- und Verboten, Bräuchen, Traditionen und Konventionen einer Gesellschaft; sie umfasst geschichtlich überlieferte und allgemein anerkannte Verhaltensweisen und Normen. Moral, so verstanden, ist eine wesentliche Bedingung menschlichen Lebens. Denn das Handeln des Menschen ist nicht ausreichend durch Instinkte, Reflexe und genetische Programme festgelegt. Dem Menschen bleiben Alternativen beim Handeln, er kann wählen, wie er handelt und lebt. Und er muss diese Wahl vor dem Horizont der Frage nach gut oder schlecht beantworten. Genau das macht auch die Moral. Sie bietet dem Menschen, der Orientierung sucht, Handlungsmaßstäbe an.
Von der französischen Sängerin Edit Piaf soll der Satz stammen: „Moral ist, wenn man so lebt, dass es gar keinen Spaß macht, so zu leben." Für viele ist das bis heute eine plausible Definition: Moral setzt sich aus Lustfeindlichkeit und Spießigkeit zusammen, ergänzt durch eine Menge Verbote und eine gehörige Portion Unterdrückung. Auch die christliche Religion hat ihren Anteil an diesem Klischee durch eine Vielzahl von Vorschriften, mit denen das Leben etwa in der Beichtpraxis geregelt und häufig genug gemaßregelt wurde.
Aber Moral in theologisch-philosophischer Lesart ist davon weit entfernt. Sie setzt anthropologisch, also beim Menschen an. Der Mensch ist, kurz gefasst, im Gegensatz zu Pflanzen und Tieren, nicht eingepasst in eine begrenzte und feststrukturierte Umwelt. Er kann seine Umwelt überschreiten: durch Selbstreflexion und durch seine Infragestellung der Welt. Der Philosoph Max Scheler konnte so formulieren: Der Mensch ist weltoffen.
Die praktische Freiheit des Menschen geht allerdings auch mit einem Zwang einher. Dem Zwang, sich der Frage nach dem richtigen und guten Handeln zu stellen. Denn wenn Reflexe, Instinkte und Erfahrung - wie bei den Tieren - nicht ausreichen, um das Handeln zu orientieren, dann müssen Handlungsregeln eben gefunden werden. Die Suche nach Handlungsregeln ist allerdings nicht alleine eine individuelle Arbeit. Sie ist immer auch Aufgabe von Gesellschaften, da Menschen eben vor allem ihr Zusammenleben zu regeln haben. Seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte haben Gesellschaften solche Ge- und Verbote, Bräuche, Traditionen und Konventionen ‚erfunden' und weitergegeben. Ihre Aufgabe: Zusammenleben zu strukturieren, das Leben zu regeln. Die Summe aller Regeln einer Gesellschaft wiederum ist Moral.
Moral fällt also nicht vom Himmel, sondern liegt im Menschen selbst begründet: Menschen brauchen Moral um ihr Leben gestalten, ordnen und leben zu können. Wie diese Moral indes aussieht, welche Regeln und Normen sie beinhaltet, ist damit noch nicht festgelegt. Ein Blick in die Geschichte wie in die verschiedenen Kulturen der Welt zeigt: es gibt viele Antworten auf die Grundfragen jeder Moral „Was soll ich tun?" und „Wie kann ich leben?"
Die Herkunft des Begriffes Moral unterstreicht diese Grundbestimmung. Moral kommt vom lateinischen Mos (Singular) und Mores (Plural). Beide Begriffe stehen für das „traditionelle Verhalten der Vorfahren" und die herrschenden „Sitten und Unsitten".
Die positiven Funktionen der Moral liegen auf der Hand. Mithilfe von Regeln und Normen wird menschliches Handeln ausgerichtet, das Zusammenleben von Menschen wird stabilisiert, weil das Verhalten vorhersehbar ist, das Individuum wird entlastet, weil sich der Einzelne nicht in jeder Lebenssituation neu entscheiden muss, was er tun soll. Erfüllt Moral diesen Anspruch nicht mehr, wandelt sie sich. Neue Regeln treten an die Stelle der alten Normen, um die Grundfunktionen der Moral zu gewährleisten.
Negativ, gerade auch im Raum des Glaubens, wird die Moral allerdings auch erfahren: Wenn sie sich verselbstständigt, also den Menschen und sein Handeln nicht mehr im Blick hat, und vor allem, wenn sie als Unterdrückungsinstrument benutzt wird. Moral stabilisiert dann nicht mehr in erster Linie das Handeln von Menschen, sondern vor allem Machtverhältnisse. Auf diese problematische Entwicklung der Moral zielt die Moralkritik, wie sie etwa auch Edith Piaf formuliert hat. Überspitzt formuliert: Moral soll gar nicht den Spaß am Leben nehmen, sondern Leben überhaupt erst ermöglichen. Tut sie das nicht, ist sie keine Moral mehr, sondern nur noch ihr Zerrbild.
Gerade vor dem Hintergrund dieser Doppelgesichtigkeit der Moral ist der Umgang der Bibel mit Regeln und Normen spannend. Einerseits verdanken wir der Bibel den Dekalog, die berühmten Zehn Gebote, sowie eine Vielzahl weiterer Gebote, Verbote, Klugheitsregeln und Normen. Andererseits aber durchzieht die Bibel selbst ein kritischer Blick auf die Moral. Vor allem Jesus trägt eine - auch alttestamentliche - Botschaft immer wieder vor: Erst kommt der Mensch, dann die Moral. Anders formuliert: Es bleibt immer zu bedenken, dass Normen und Regeln für den Menschen da sind - und nicht umgekehrt. Bis heute ist dieses klare Rangordnung ein Stachel im Fleisch des christlichen Glaubens. Vor allem in den Kirchen wurden allzu oft die Norm über den Mensch gesetzt. Mit oftmals unbarmherzigen Folgen.
Moral, recht verstanden, ist allerdings nicht für sich da. Sie hat, das zeigt die anthropologische Herleitung, dem Menschen zu dienen - auch im Raum des christlichen Glaubens. Ihr erster Impuls ist nicht, ein bestimmtes Handeln als sündig oder nicht zu klassifizieren. Ihr erster Impuls muss es sein, Menschen Leben zu ermöglichen. Daran haben sich alle Regeln und Normen innerhalb und außerhalb des Glaubens zu orientieren.
Autor(en): Thomas Laubach