Manche Christen empfinden die Ökumene als unverbindliche Liebhaberei von einigen Begeisterten. Diesem Eindruck widerspricht das Zweite Vatikanische Konzil. Ausdrücklich bezeichnet es die ökumenische Bewegung als Wehen des Hl. Geistes, sowohl innerhalb wie außerhalb der katholischen Kirche. Jede getrennt kirchliche Glaubensgestalt entspricht letztlich nicht dem Kern des christlichen Glaubens: Einheit aller Menschen mit Gott als Vereinigung aller Menschen untereinander. Das Ringen um gegenseitiges Verständnis der Christen untereinander soll dazu führen, dass Gottes Heilsgegenwart in den jeweiligen anderen Gemeinschaften entdeckt und anerkannt wird. Erst dann tun sich Wege zur sichtbaren Gestalt der Einheit aller Christen auf. Auch wenn das Menschlich-Allzumenschliche manchmal Hindernisse aufwirft, die Ökumene lebt aus dem Vertrauen auf Gottes Heilszusage. Im Sakrament der Taufe wird sie je neu aktualisiert und feierlich bekannt.
Die christlichen Gemeinschaften, die in der „Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen" (ACK) zusammenwirken, haben alle das Grundsakrament der Taufe gegenseitig anerkannt. Genau an diesem Ort tritt das Anliegen der „Ökumene" zutage. Denn einzig durch die Vermittlung der jeweiligen Glaubensgemeinschaft besiegelt Gott sein Heil am einzelnen Menschen. In dieses Geschehen tritt der Täufling ein, indem er sich zum Glauben bekennt, den diese Gemeinschaft ihm verkündet. Der Glaube des Einen erwächst aus dem Glaubenszeugnis der Anderen. Zeichen der Besiegelung und des Bekenntnisses ist deshalb die Zugehörigkeit zur jeweiligen historisch gewachsenen und gefügten Gemeinschaft von Glaubenden. Die geschenkte Einheit mit Gott gestaltet sich als Einheit der Glaubensgemeinschaft. Genau hier, im Kern des Taufgeschehens, rumort der Widerstreit, dem die Ökumene sich stellt. Die bezeichnete Realität des Heils einerseits und die Realität des Zeichens andererseits, die vom heilenden Gott gewirkte Einheit und die reelle Uneinigkeit der konkreten Glaubensgemeinschaften widersprechen einander. Wenn wir die Heilsbotschaft der umfassenden Einheit ernst nehmen, dürfen wir uns mit den Trennungen zwischen den Christen nicht abfinden.
Es hat aber einen mühsamen Weg gebraucht, bis alle Christen diese vom gemeinsamen Glauben vorgegebene Einsicht miteinander teilten. Die äußerst unterschiedlichen Auffassungen bezüglich ihrer praktischen wie theologischen Konsequenzen bilden ihrerseits die faktischen Trennungen ab. Eine unleugbare Tatsache ist aber, dass alle Christen den einen Glauben feiern und leben innerhalb ihrer konkreten, getrennt voneinander agierenden Glaubensgemeinschaften. Wie können die Christusglaubenden den einen Glauben gemeinsam gestalten, der über alle jeweiligen Traditionen hinweg vereint, während sie zugleich die eigene konkrete Kirche lieben und kultivieren, die die Christen doch wiederum voneinander trennt? Auf diese Weise spitzt das ökumenische Problem sich zu auf die Frage nach der wesensnotwendigen kirchlichen Dimension persönlichen Glaubens. Die Ökumene bewegt sich nicht in einem Freiraum oberhalb oder jenseits der vielen Kirchen, sondern vielmehr im Raum zwischen ihnen. Ökumene ist nicht eine Art Über-Konfession. Ökumenisches Engagement und gelebte Bindung an die eigene Kirche und ihre Traditionen bedingen sich gegenseitig, obwohl sie zusammen oftmals schwer auszuhaltende Spannungen erzeugen.
Im Zweiten Vatikanischen Konzil ereignete sich ein Wendepunkt, ein echter Paradigmenwechsel, nicht nur innerhalb der katholischen Kirche, sondern als Katalysator ebenso in der umfassenden ökumenischen Bewegung. Seine Konsequenzen sind theologisch und praktisch noch gar nicht erschöpft. War es lange allgemein üblich, die jeweils anderen Kirchen einzig aus der Perspektive der eigenen Gemeinschaft und ihrer theologischen Systematik zu betrachten, so trat jetzt eine andere Sichtweise hervor. In feierlicher Weise erkannte die katholische Kirche die wirksame Heilsgegenwart Gottes in nichtkatholischen Gemeinschaften an. Die Verkündigung und Feier des Wortes Gottes, das tägliche Glaubensleben, das diakonische Engagement, dies alles sind Zeugnisse lebendigen Glaubens. Deshalb wurden diese Gemeinschaften im neutestamentlichen Sinn als „kirchlich" bezeichnet. Solches beschränkt sich nicht auf den aktuellen Zeitpunkt allein, sondern erstreckt sich ebenso auf die vergangene geschichtliche Weitergabe des Glaubens. Über alle Trennungen und Verwerfungen hinweg hat der eine Glaube auf beiden Seiten des Grabens gemeinschaftsbildend weiter gelebt. Diese Sichtweise des Geistes, die zwar zunächst die ‚anderen' betrifft, ändert auch den Blick auf die eigene Kirche und ihre Traditionen. Bei aller bleibenden Verbindlichkeit für die Mitglieder der eigenen Glaubensgemeinschaft verliert sie dennoch ihren seit Jahrhunderten festgefügten Anspruch auf alleinige Wahrheit.
Die anerkannte Tatsache, dass Gott auch jenseits der Grenzen der eigenen Kirche wirkt, zwingt die Theologie zu neuen Weisen des Sehens und des Fragens. Was begründet den kirchlichen Charakter einer Glaubensgemeinschaft, auch wenn diese das dreigliedrige hierarchische Amt nicht überliefert hat? Die Vorstellungsbreite bezüglich der Einheit des Glaubens und ihrer sichtbaren Gestalt hat sich ebenfalls gewandelt. Nicht die Vielzahl der Glaubensweisen an sich widerspricht dem einen Bekenntnis. Das Gleichgewicht des Konzils harrt der Verwirklichung: Einerseits die katholische Kirche als Sakrament für die ganze Welt, andererseits das wirksame Wort Gottes jenseits der eigenen Kirchengrenzen. Beides lässt es nebeneinander gelten. Auf dem Weg des „differenzierten Konsenses" oder der „versöhnten Verschiedenheit" ringt die Ökumene um die sichtbare Einheit aller Christen, die die Verschiedenheit der vielfältigen Glaubenstraditionen in sich umfasst. Die Geschichte, die zugleich unsere Heilsgeschichte ist, hat uns vor diese unausweichliche Aufgabe gestellt.
Msgr. Dr. Anton van Hooff, ehemals Ökumene-Referent des Bistums Mainz
Autor(en): Anton van Hooff