Paulus unter Sektenverdacht
„Wir finden nämlich, dieser Mann ist eine Pest, ein Unruhestifter bei allen Juden in der Welt und ein Rädelsführer der Sekte der Nazoräer. Er hat sogar versucht, den Tempel zu entweihen. Wir haben ihn festgenommen. Wenn du ihn verhörst, wirst du selbst alles ermitteln können, wessen wir ihn anklagen."
Paulus antwortet dem Statthalter
Auf einen Wink des Statthalters erwiderte Paulus:
„Sie können dir nichts von dem beweisen, was sie mir jetzt vorwerfen. Das allerdings bekenne ich dir: Dem neuen Weg entsprechend, den sie eine Sekte nennen, diene ich dem Gott meiner Väter. Ich glaube an alles, was im Gesetz und in den Propheten steht, und ich habe dieselbe Hoffnung auf Gott, die auch diese hier haben: dass es eine Auferstehung der Gerechten und Ungerechten geben wird."
Felix, der den neuen Weg genau kannte, vertagte den Fall.
(Apostelgeschichte 24, 2; 5-8; 10; 13-15; 22)
Ursprünglich ist in den großen (Welt-)Religionen mit einer „Sekte" eine vom Hauptstrom der religiösen Ideen abweichende Minderheit gemeint. So wird im Text der Apostelgeschichte (Apg 24, 1-27), der Paulus vor dem römischen Statthalter Felix in Cäsarea schildert, vom Anwalt der Jerusalemer religiösen Autoritäten der Vorwurf erhoben, Paulus gehöre zur „Sekte der Nazoräer". Das griechische Wort, das hier in Vers 5 und Vers 14 für die Bezeichnung „Sekte" verwendet wird, ist das Wort „Häresie" und bedeutet übersetzt „Auswahl". Paulus und der „Nazoräersekte" wird unterstellt, dass sie aus dem Gesamt des jüdischen Glaubens nur bestimmte Teile auswählen, also „Häretiker", im Sinne von „Auswählenden", sind. Paulus betont aber, dass er „an alles glaubt, was im Gesetz und den Propheten steht" (V.14) und dass er dieselbe „Auferstehungshoffnung" hat wie seine Ankläger. Damit macht er deutlich, dass das Verhältnis der christlichen Botschaft zu ihrer Herkunftsreligion des Judentums, gerade nicht das Verhältnis einer „Sekte" ist. Die christliche Botschaft wählt nicht aus oder spaltet sich ab, sondern sie erfüllt den jüdischen Glauben mit einem neuen Sinn. Damit nimmt Paulus das Jesuswort in Matthäus 5, 17 auf: „Denkt nicht ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen um aufzuheben, sondern um zu erfüllen." Aus dieser Haltung Jesu und des Paulus zu ihrer Herkunftsreligion wird deutlich, dass es nicht der Sinn der christlichen Botschaft sein kann, andere Religionen und Weltanschauungen zu ersetzen, sondern sie so zu interpretieren, dass sie ihrem Heilsanspruch tatsächlich gerecht werden können.
Das im Jahre 2009 von den katholischen Weltanschauungsbeauftragten neu herausgegebene „Sektenlexikon" ist mittlerweile gänzlich überarbeitet und in seiner Neugestaltung in drei Bände aufgeteilt: Band 1: „Lexikon der nichtchristlichen Religionsgemeinschaft", Band 2: „Lexikon neureligiöser Bewegungen, esoterischer Gruppen und alternativer Lebenshilfen", Band 3: „Lexikon christlicher Kirchen und Sondergemeinschaften." Der Sektenbegriff taucht im Titel des Lexikons überhaupt nicht mehr auf. Die Gründe dafür sind, dass sich das religiöse und weltanschauliche Angebot in den letzten zwanzig Jahren in einen pluralen und unübersichtlichen „religiösen Supermarkt" verwandelt hat. Das Angebot dieses Marktes, das von A, wie Adventisten und Anthroposophie bis Z, wie Zen-Buddhismus und Zeugen Jehovas reicht, ist mit dem „Sektenbegriff" im Sinne einer Abspaltung einer religiösen Minderheit von einer religiösen Mehrheit, nicht adäquat zu erfassen. Zur Beschreibung des „religiösen Supermarktes" sind inhaltlich beschreibende Begriffe wie, „neohinduistischen Gurugruppen", „christliche Sondergemeinschaften", „Evangelikale", „Pfingstbewegungen", „Psycho- und Politgruppen", „esoterische Lebenshilfe", „Internetreligionen", „Okkultismus", „Satanismus", „schwarze Szene" und „Traditionalisten", sinnvoller.
Trotzdem hält sich in unserer Umgangssprache der Begriff der „Sekte". Menschen erfahren die Zweideutigkeit religiöser und weltanschaulicher Heilsangebote. Es gibt offensichtlich „gute" aber auch „schlechte" Heilsangebote. Von einer „Sekte" ist deshalb im Alltagssprachlichen die Rede, wenn:
Eine solche Menschen verachtende „Sektenpraxis" hat ihren Grund meist in der Ideologie einer Gruppe, die das Heil als durch „Maßnahmen" (Methoden, Kurse, Seminare, Missionsdienste, Geld ...) manipulierbar denkt. Aus dieser „Heilsmanipulation" wird dann ein Menschenbild abgeleitet, das erlaubt auch mit Menschen manipulativ umzugehen. Solange es solche „schlechten" Heilsangebote gibt, wird sich der Sektenbegriff in der Alltagssprache halten. Die Aufgabe der christlichen Botschaft ist es, in der Auseinandersetzung kritisch darauf hinzuweisen, dass immer dort wo Menschen das Heil herstellen wollen, sich also selbst an die Stelle Gottes setzen, das Verhältnis der Menschen untereinander entsprechend inhuman und unheilvoll wird.
Autor(en): Eckhard Türk