Das Hören

„Haben Sie das schon gehört?" Vor dem Religionsunterricht laufen die Schülerinnen und Schüler meiner vierten Klasse ganz aufgeregt auf mich zu, um mir ihre wichtige Neuigkeit zu erzählen. Und ich „bin ganz Ohr", um zu hören, was meine Religionsklasse in solch große Aufregung versetzt.

In unserem Leben kommt dem Ohr eine wichtige Bedeutung zu. Unser Ohr ist immer offen und somit allen Geräuschen ausgesetzt. Schon am frühen Morgen, noch bevor ich die Augen öffne, vernehme ich über die Ohren die Morgengeräusche. Über mein Hören trete ich als erstes in Beziehung zur Welt und zu den Menschen.

Auch Ungeborene hören schon: die Stimme der Mutter und des Vaters, den Klang von Musik. Unsere Ohren haben sich längst vor unserer Geburt als erstes Organ gebildet. Im Mutterleib ist der Herzschlag der Mutter der erste vernehmbare Ton, den wir wahrnehmen. Selbst von Sterbenden und Bewußtlosen sagt man, dass sie hören und vernehmen, was um sie herum vor sich geht.

In der Antike galt das Ohr als der Sitz des Gedächtnisses, als Speicherort. Über das Hören werden in besonderer Weise Emotionen geweckt. Gefühle und ein inneres Angerührt-sein werden durch Töne, durch Worte und Musik hervorgerufen. Wer kennt das nicht: Ich lausche einer Melodie, die mich bis ins Innerste meines Herzens bewegt. Ich höre Worte, die mich bestärken und mich froh machen, aber auch solche, die mich zutiefst verletzen. Auch nehme ich die Gestimmtheit des Mitmenschen im Hören anders wahr als im Schauen. Das Ohr lässt uns feinste Unterschiede von Klangwellen und lautlosen Wellen wahrnehmen und leitet sie an das Gehirn weiter. Der ganze Mensch hört.

Mit dem Ohr hören wir uns selbst und finden wir zu uns selbst. Umgekehrt aber kann man nur aus sich herausgehen, weil man hört. Das Ohr ist das Organ von innen nach außen, aber auch von außen nach innen. Die Ohrmuschel wird oft mit einer Schnecke verglichen. Unsere Welt ist voll von Geräuschen. In diesem lauten Gewirr verlernen wir das rechte Hören, das Hinhören, das Horchen auf Wesentliches. So ist auch unser Inneres oftmals unfähig, auf die eigentliche Stimme zu hören, die Stimme Gottes in der Welt und im Menschen, in uns selbst. Diese Stimme ist leise. Es ist nötig, in die Stille zu horchen, die Sprache des Herzens zu lernen. Als Hörender muss ich die Haltung der Offenheit, der Empfänglichkeit und des Vertrauens üben.

Deshalb ist das Ohr auch in der Bibel ein wichtiges Organ für den Glauben und wird oft zugleich mit dem Herzen genannt. Das Hören mit dem Herzen wird als wesentliche Quelle des Lebens erkannt.

Ein glaubender Mensch ist ein hörender Mensch. „Der Glaube kommt vom Hören auf die Botschaft im Wort Christi" schreibt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom (Röm 10,17). In jeder Messe hören wir das Wort Gottes. Es ist eine Weise, in der Christus unter uns gegenwärtig ist, wenn aus den Schriften gelesen wird und wir sein Wort hörend in uns aufnehmen. Schon die Kirchenväter haben die Heil wirkende Gegenwart Christi in seinem Wort gesehen und diese mit der eucharistischen Gegenwart verglichen. „Ein hörbares Sakrament" nannte es der heilige Augustinus.

Auch das tägliche Bekenntnis der Juden beginnt mit „Höre, Israel!" Höre die Gesetze und Rechtsvorschriften, erinnere dich, was uns die Väter erzählten und befolge Gottes Gebote. Bei diesem Hören ist nicht nur das Sinnesorgan Ohr in Anspruch genommen. Das äußere Wort muss auch innerlich treffen und zünden. Hören und Gehorchen stehen in einem engen Zusammenhang. Hinhorchen, hingegebenes Hören hat seine Wurzeln im Herzen. Liebe macht hell-hörig. Hört und ihr werdet leben! (Dtn 4,1). Gott muss seinem Wesen nach ein großartig Hörender sein, weil er ein großartig Liebender ist. Was müssen Gottes Ohren nicht alles aufnehmen - unsere Bitten und Klagen, unser Weinen und Trauern, lautes Schreien und leises Flüstern. Wir erwarten Er-hörung. Unsere Antwort kann ein Gebet mit Worten sein, vielmehr wird unser Beten ein „Hören" werden.

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855) beschreibt den Beter einmal so:

"Als sein Gebet immer
andächtiger und innerlicher wurde,
da hatte er immer
weniger und weniger zu sagen;
zuletzt wurde er ganz still.
Er wurde,
was womöglich
noch ein größerer Gegensatz
zum Reden ist, ein Hörer.
Er meinte erst, Beten sei Reden,
er lernte aber,
dass das Beten
nicht bloß Schweigen ist,
sondern Hören.
Und so ist es:
Beten heißt nicht,
sich selbst reden hören,
beten heißt stille werden
und stille sein und harren,
bis der Betende Gott hört."

Angela Eckart